Möglicherweise braucht es gar keine weiteren Austritte aus der EU: Die Europäische Union läuft Gefahr, an der Frage der Brüsseler Kompetenzen und an der mangelnden Solidarität der Mitgliedsländer untereinander zu zerbrechen. Die Flüchtlingskrise ist der Katalysator dieses Prozesses.

Nach dem Treffen des Innenministers Wolfgang Sobotka und des Verteidigungsministers Hans Peter Doskozil mit ihren ungarischen Kollegen sagte Doskozil: "Wir sollten europäisch denken und bilateral handeln." Das ist verräterisch und ein Alarmzeichen, wie sehr selbst österreichische Spitzenpolitiker das Europäische nur noch als Alibi im Munde führen, de facto aber nicht mehr als Verpflichtung fühlen. Das regionale Hemd ist ihnen näher als der europäische Rock.

Bleiben wir beim österreichischen Verteidigungsminister. Er will eine größere Nähe zur Nato und hält offenbar von einer europäischen Verteidigungsoption wenig. Die Nato gibt es schon, und der Nachbar Ungarn ist wie andere Nachbarn Mitglied des Bündnisses.

Angesichts dieser Realität wäre eine Europa-Armee ohnehin eine kostspielige Parallelunternehmung, weil sich die Armeen der Nationalstaaten wegen der Nato, aber auch wegen des patriotischen Stolzes nicht unter Brüsseler Kommando begeben würden.

Österreich könnte jedoch Verfechter einer europäischen Polizei sein, denn die würden wir dringend brauchen – zur Sicherung der Außengrenzen bei wachsenden Flüchtlingsströmen und zur Verringerung der Terrorgefahr. Das wäre effektiver als die Grenzschutz-Agentur Frontex. Eine EU-Polizei wäre auch nötig, weil es eine starke Kooperation der Abwehrdienste nicht gibt.

In die Lücken stoßen lokale Bürgerwehren, die zunehmend ein Problem für die Demokratien in Südosteuropa bilden. Die österreichische Regierung, allen voran Außenminister Sebastian Kurz, tut zwar so als löse die "Schließung der Balkanroute" einen Teil des Problems. Das Vorgehen wirft aber neue Fragen auf.

In Bulgarien haben mehrere Tausend Soldaten privater Bürgerwehren ohne offizielles Mandat laut einem 3sat-Bericht vergangenen Freitag die "Grenzsicherung übernommen". Sie verstehen sich als "europäische Miliz", eine wachsende Zahl hat eine "kostenlose Ausbildung in Russland" erhalten. Die Flüchtlinge haben nach Darstellung ihrer Kommandanten "zu einem Drittel Aids" und zudem "als muslimische Angreifer genug Geld in der Tasche".

Kann das für Österreich ein Teil der Lösung sein? Sicher nicht. Noch dazu, weil sich die östlichen EU-Staaten hartnäckig weigern, Flüchtlinge im Sinne einer Quotenregelung aufzunehmen. Das heißt:

1. In den südöstlichen Grenzstaaten schreitet die Destabilisierung der ohnehin schwachen demokratischen Strukturen fort, Griechenland und Italien sind zunehmend überfordert. Und die Türkei geht nach dem Putschversuch vom Wochenende auf eine noch ungewissere Zukunft zu.

2. Man wagt aus wirtschaftlichen Gründen keinen EU-Austritt, verabschiedet sich aber von Verpflichtungen außerhalb der Marktstrukturen.

Ein schleichender Zerfall. (Gerfried Sperl, 17.7.2016)