"Was ist das für ein komischer Putsch?", fragt sich Kenan Güngör.

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STANDARD: Wie sehr ist die Türkei in ihren Grundfesten erschüttert? Beide Seiten, Regierung wie Putschisten, haben sich die Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben, die jetzige Säuberungswelle lässt aber auf nichts Gutes schließen.

Güngör: Es gibt in der Türkei seit Jahren einen Abbau der Rechtsstaatlichkeit, eine Aufhebung der Gewaltenteilung, eine Unterwanderung der Justiz. Erdoğan selbst hat gesagt, dass ihn die Gewaltenteilung bei der Amtsführung stört. Es gibt eine massive Einschränkung der Pressefreiheit, die meisten Journalisten sind eingeschüchtert. Eigentlich haben wir einen Verlust aller Institutionen, die einen demokratischen Rechtsstaat ausmachen. Es gibt keine Möglichkeit mehr, ein pluralistisches Meinungsbild zu erzeugen, die Opposition hat kaum Möglichkeiten, sich sichtbar zu machen.

STANDARD: Erdoğan hat den Putsch als "Segen Gottes" bezeichnet. Es gibt mittlerweile mehr als 6.000 Festnahmen. Bewegt sich die Türkei in Richtung einer Diktatur?

Güngör: Wir sind auf dem Weg dahin. Es wird ein zunehmend autoritär geführter, halb demokratischer Staat. Die Demokratie ist Erdoğan nützlich, solange er auch gewählt wird. Die Demokratie ist für ihn nur auf die Wahl reduziert. Dass die Demokratie wichtige Kernelemente wie Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte braucht, zählt für ihn überhaupt nicht. Was passiert an dem Tag, an dem Erdoğan nicht mehr gewählt werden sollte? Wenn die Demokratie für Erdoğan nicht mehr funktional ist, könnte sie für ihn auch disponibel werden.

STANDARD: Gibt es im türkischen Militär Kräfte, denen man ernsthaft den Wunsch nach einer Demokratisierung des Landes zutraut?

Güngör: Bei aller Kritik an dieser Regierung muss ich festhalten, dass auch diese hochbedenkliche Entwicklung, wie wir sie in der Türkei erleben, niemals einen Militärputsch legitimieren kann. Aber die Proklamation, so wie sie verlesen wurde, würde ich sofort unterschreiben. Das war ein flammendes Plädoyer: Dieser Staat entgleitet, er wird zunehmend islamistisch und autoritär geführt, alle Strukturen der Demokratie und die Meinungsfreiheit sind ausgehöhlt, die Außenpolitik ist ein Desaster, dem muss Einhalt geboten werden. Ich glaube, dass ein Teil des Militärs einen Wandlungsprozess erlebt hat. Der Einfluss der AKP nimmt massiv zu. Einen Putschversuch hätte ich eigentlich vor fünf, sechs Jahren erwartet. Die Kemalisten und Laizisten sind immer mehr dezimiert worden. Dass die Gülen-Bewegung im Militär so stark geworden ist, dass sie einen Putsch starten könnte, glaube ich nicht. Vielleicht waren sie im Entfernten daran beteiligt, aber alleine können sie das nicht bewegen. Die Gülen-Bewegung ist ein Segen für die AKP, weil sie ihre Säuberungsaktionen rechtfertigen kann.

STANDARD: Es gibt Theorien, wonach das gar kein Putsch war, sondern von Erdoğan inszeniert wurde.

Güngör: Ich halte nicht viel von Verschwörungstheorien. Aber: Im Wissen dessen, was in der Türkei schon passiert ist, muss man der offiziellen Version mit Skepsis entgegentreten. Das waren kleine Gruppen von Soldaten, die den Fernsehsender besetzt oder den Präsidentenpalast angegriffen haben. Die Sicherheitskräfte dort sind um ein Vielfaches höher. Noch absurder war die Situation am Flughafen: 100 Soldaten treffen auf eine vielfach höhere Zahl an hochgerüsteten Polizeikräften. Was ist denn das für ein komischer Putsch? Da sind martialische Bilder erzeugt worden, eine Stimmung, dass man sich in einem Bürgerkrieg befindet. Wahrscheinlich gab es einen Putschversuch, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass in der Türkei, wo alles abgehört wird, die Geheimdienste davon keinen Wind bekommen haben. Die Putschisten sind in die Falle gelaufen. Wem kommt das zugute? Das ist Erdoğan. Er kann jetzt in die letzten Bastionen des Militärs und der Justiz eingreifen. Innerhalb von wenigen Stunden war auch eine Liste von 2.700 Richtern da, die suspendiert wurden, und von 2.800 Militärs, die festgenommen wurden. Die Listen gab es vorher. Hier hat man eine Falle zuschnappen lassen. (Michael Völker, 17.7.2016)