Freude über den missglückten Putschversuch in Istanbul.

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Der Militärputsch ist innerhalb weniger Stunden zusammengebrochen. Es waren die türkischen Bürger, die ohne Furcht sofort auf die Straßen gingen und ihren Staat verteidigten, die diesen unglaublichen Staatsstreich vereitelten. Dies ist ein historischer Sieg: Zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik scheitern Putschisten am Volk.

Dass Befehlshaber der Armee rasch den Umsturzversuch ihrer Offiziere und Kameraden verurteilten und dann zurückschlugen, war allerdings mindestens ebenso entscheidend. Die große Mehrheit der türkischen Armee bewies, dass sie auf der Seite des Rechtsstaats steht. Auch das hat es so noch nicht in der Türkei gegeben. Dieser Putsch war – wenn man die Zahl der bisher festgenommenen Soldaten als Grundlage nimmt – genau so, wie ihn der türkische Regierungschef als erster beschrieb: Ein kleiner Teil des Militärs, wenige Hundert Armeeangehörige versuchten, die Macht an sich zu reißen. Die Mittel, die sie einsetzten, waren beachtlich. Die Entschlossenheit, mit der sie in den ersten Stunden offenbar vorgingen, war schockierend: Die Soldaten schossen in die Menge, bombardierten Parlament und andere zivile wie militärische Machtzentren der Republik.

Die Bilanz dieses vierten Putsches in der Türkei – oder des fünften, wenn man die 1997 unter Druck des Militärs erreichte Ablösung des damaligen islamistischen Regierungschefs Necemettin Erbakan dazuzählen will – ist schwer. Über 190 Menschen sollen ums Leben gekommen sein, mehr als 1500 wurden verletzt. Dass dieser Umsturzversuch überhaupt stattfand, überrascht im In- wie im Ausland. Einer der wesentlichen Erfolge der seit 2002 regierenden konservativ-islamischen Partei AKP von Tayyip Erdogan ist schließlich die Entmachtung der Armee, ihre weitgehende Kontrolle durch gewählte zivile Institutionen. Nicht weniger leicht zu verstehen, sind auch die Schuldzuweisungen von Präsident und Regierung: Der frühere politische Verbündete, der Prediger Fethullah Gülen und sein – angeblich immer noch vorhandenes – Netzwerk im türkischen Staat sollen diesen Putsch angezettelt haben. Dabei ist es dieselbe Gülen-Bewegung, die für die Massenprozesse gegen Generäle und Offiziere verantwortlich gemacht wird, die sich allesamt nun als konstruiert und falsch erwiesen haben sollen. Viel Sinn ergibt das nicht.

Für Tayyip Erdogan, den autoritär regierenden Staatschef der Türkei, ist dieser schnell gescheiterte Putsch ein enormer politischer Vorteil. Das Ausmaß kann man nur ahnen: Einen demokratischen Neubeginn im Land, einen Reset, der die Trennung der Staatsgewalten in der Praxis wiederherstellt, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit wieder garantiert, wird der Tag nach dem Putsch nicht bringen. Dagegen spricht die Gesinnung, die Tayyip Erdogan in den vergangenen Jahren an den Tag gelegt hat. Der gescheiterte Putsch vom 15. Juli ist die Freikarte für die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei, für ein erfolgreiches Referendum zur Verfassungsänderung, für die endgültige Gleichschaltung von Justiz und Medien. Noch in der Putschnacht haben manche Türken einen Vergleich mit dem Reichstagsbrand in Berlin 1933 gezogen. Die Türken müssen sich klar werden, was sie mit ihrem Leben gerade verteidigt haben – die Demokratie oder allein die gewählte Herrschaft des Präsidenten Erdogan. (Markus Bernath, 16.7.2016)