"Meine Großmutter musste vieles durchmachen, damit sie und die Familie am Leben bleiben."

Foto: Nils Bröer

"Hier in Dorćol haben Nedićs Leute die Juden geholt und ins KZ Sajmište gebracht."

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Als Jelena Djurović elf Jahre alt war, stand bei ihr in der Schule "Die Brücke über die Drina" des jugoslawischen Autors Ivo Andrić auf dem Lehrplan. Eine Hauptheldin in dem Buch ist an die Person der Lotika Zellermeier angelehnt, Djurovićs Urgroßtante. Als sie das von ihrer Mutter erfuhr, wurde Jelena Djurović zum erste Mal bewusst, dass sie Jüdin ist.

31 Jahre später sitzt die Menschenrechtsaktivistin, Radiojournalistin und Vizevorsitzende der jüdischen Gemeinde Montenegros in einem Café im Belgrader Stadtteil Dorćol. Hier war einst das Zentrum der jüdischen Gemeinde. Davon zeugt bis heute der Straßenname Jevrejska, Judenstraße. Seit ihrer Kindheit lebt Djurović in Dorćol. Sie passt gut in das hippe Viertel; sie lacht viel und gern, wird aber sofort ernst, wenn ihr ein Thema sehr am Herzen liegt. Djurović gehört zu den Menschen, die die Zukunft des Landes im Westen sehen, Kriegsverbrechen aufarbeiten wollen und sich für die Rechte von Schwulen und Lesben einsetzen. Von der Gegenseite – denjenigen, die Wladimir Putin anhimmeln und Liberalismus und Minderheitenrechte für dekadente westliche Propaganda halten – erntet sie dafür viel Hass. Auf ihre jüdischen Wurzeln ist Djurović stolz. Wenn der Davidstern an ihrer Kette unter die Bluse rutscht, holt sie ihn schnell wieder hervor.

Ein Leben in Angst

Sie versucht zu erklären, warum das Jüdischsein in ihrer Kindheit zunächst keine Rolle gespielt hat: "Meine Großmutter musste vieles durchmachen, damit sie und die Familie am Leben bleiben." Ein Teil der Familie wurde im Konzentrationslager Dachau ermordet. Ein Großonkel kam 1941 bei den "Säuberungen" in Belgrad ums Leben. "Meine Großmutter hatte gefälschte Geburtsurkunden, auf denen stand, dass sie serbisch-orthodox ist. Ihre Eltern wiederum konnten keine gefälschten Dokumente bekommen und mussten sich in einem Dorf im Keller verstecken".

Jelena Djurovićs Großmutter hatte ihr ganzes weiteres Leben lang Angst, dass die Nazis eines Tages zurückkommen würden. Manchmal stand sie in der Nacht auf, weil sie von den Fußtritten der Soldaten träumte. Deswegen bestand sie auch lange Zeit darauf, dass ihre Enkelin nichts von ihren jüdischen Wurzeln erfahren sollte. "Sie drohte, das Haus zu verlassen, wenn mir jemand erzählen würde, dass ich Jüdin bin."

Am Anfang konnte Jelena Djurović, wie sie sagt, "mit all diesem Jüdischen" nicht viel anfangen. Doch dann begann sie, sich für jüdische Geschichte zu interessieren. »Es gibt viele Möglichkeiten, jüdisch zu sein, Religion ist nur eine", sagt sie. "Natürlich weiß ich viel übers Judentum, aber für mich ist es vor allem etwas Kulturelles und Politisches statt etwas Religiöses. Jeder muss selbst entscheiden, wie er jüdisch sein will."

Kampf gegen Vereinnahmung

Heute kämpft Jelena Djurović gegen die Vereinnahmung ihrer Vorfahrin Lotika Zellermeier durch den nationalistischen Regisseur Emir Kusturica, der sein Unternehmen vor einigen Jahren nach ihr benannt hat. Oft hört sie, dass Kusturica doch großartige Filme gemacht habe. Darauf entgegnet sie: "Sein Werk interessiert mich nicht. Auch Leni Riefenstahl hat gute Filme gemacht – na und? Politisch sind diese Menschen unmöglich. Ich kann mir doch nicht die Filme anschauen und dann ausblenden, dass diese Leute mit Hitler oder Slobodan Milošević verkehrt haben."

Kampf gegen die Rehabilitierung

Mit Sorge betrachtet Djurović, wie man in Serbien mit der Vergangenheit umgeht: Seit einiger Zeit läuft ein Gerichtsverfahren über die Rehabilitierung von Milan Nedić, dem Nazikollaborateur und Ministerpräsidenten des serbischen Marionettenstaats, der von 1941 bis 1944 existierte. Die Urenkel von Milan Nedić fordern die Rückgabe des durch den jugoslawischen Staat enteigneten Besitzes. Es geht um Wohnungen und Grundstücke in bester Lage der Belgrader Innenstadt. Diese können sie aber erst dann zurückfordern, wenn das Urteil gegen Nedić posthum zurückgenommen, er also rehabilitiert wird.

"Judenfreies" Serbien

Außerdem wurde in Belgrad 1996 damit begonnen, Straßennamen zu ändern und die Namen von Partisanen und Antifaschisten aus dem Stadtbild zu entfernen. Darüber hinaus wurde der Antisemit Nikolaj Velimirović 2003 von der serbisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen, und vor zwei Jahren rehabilitierte man den Tschetnik-Führer Dragoljub Mihailović. Djurović ist sehr beunruhigt über diese Entwicklung: "Das alles war der Auftakt. Wenn sie Milan Nedić rehabilitieren, dann setzt das dem Ganzen die Krone auf." Bereits im August 1942 galt Serbien dem SS-Gruppenführer schließlich als das einzige Land, in dem die "Judenfrage" endgültig gelöst sei. Belgrad wurde zur ersten "judenfreien" Hauptstadt ernannt.

Die Verteidiger von Milan Nedić bringen einiges an Kreativität auf, um die Nazikollaboration und die Judenvernichtung zu verteidigen. Er habe nur versucht, Serben unter den Bedingungen der Besatzung während des Krieges zu retten. Dass unter seinem Regime systematisch Juden, Roma und Partisanen vernichtet wurden, scheint die Nedić-Anhänger nicht zu interessieren. Bei den Befürwortern von Milan Nedićs Rehabilitation handelte es sich um serbische Ultranationalisten und Neo-Nazis mit eindeutigen Tätowierungen. Bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude im Mai schrien die Anhänger: "Lang lebe Nedićs Serbien!"

Jelena Djurović schüttelt über das Verfahren nur noch den Kopf: "Hier in Dorćol haben Nedićs Leute die Juden geholt und ins KZ Sajmište gebracht. Ich kann nicht glauben, dass wir ernsthaft dieses Verfahren führen und dass er rehabilitiert werden könnte. Sie dürfen die Nazikollaborateure nicht rehabilitieren."

Kindheit in Jugoslawien

Das Jüdischsein in ihrer Kindheit und Jugend in Titos Jugoslawien beschreibt Djurović als angenehm. Antisemitismus habe sie nie erlebt. "Das Problem war allerdings, dass wir keine diplomatischen Beziehungen zu Israel hatten. Doch das war kein Antisemitismus, sondern eine politische Entscheidung." Vor einigen Jahren – Djurović lebte damals in London – erhielt sie einen Anruf von einem Herrn Alfandari aus Montenegro. Er wolle eine jüdische Gemeinde gründen, sagte er zu ihr. Zu diesem Zeitpunkt gab es dort kein sichtbares jüdisches Leben. Alfandari war über ihre familiäre Verbindung zu Lotika Zellermeier auf Djurović aufmerksam geworden. "Heute ist er der Vorsitzende, und ich bin die Vizevorsitzende der jüdischen Gemeinde, die inzwischen seit mehr als vier Jahren besteht", sagt Djurović.

Kleine Gemeinde

In Montenegro gibt es rund 500 Juden. Die meisten leben in der Hauptstadt Podgorica, wo Djurović seit einiger Zeit einen zweiten Wohnsitz hat. "Wir sind nur eine sehr kleine Gemeinde", sagt sie. Doch jedes Jahr kämen rund 3000 jüdische Touristen nach Montenegro. "Und weil es keine israelische Botschaft im Land gibt, rufen die Menschen zuerst bei uns an, wenn sie Probleme haben. Wir sind dann für sie da."

Demnächst soll in Podgorica eine Synagoge entstehen. Direkt daneben will die Gemeinde ein jüdisches Kulturzentrum und ein koscheres Restaurant errichten. Dafür werden Spenden gesammelt. Manchmal wird Djurović gefragt, warum dies denn für eine so kleine Gemeinde notwendig sei. Dann sagt sie ganz klar: "Dieses Projekt ist wichtig als gesellschaftlicher Klebstoff für die Juden in Montenegro. Wer weiß, vielleicht kommen ja, wenn alles fertiggestellt ist, noch ein paar mehr dazu." (Krsto Lazarević aus Belgrad, 15.7.2016)