Schloss Wilhelminenberg: Heute gediegenes Hotel, einst städtisches Kinderheim – und für viele Hort des Schreckens. Die Stadt Wien befasste sich mit Übergriffen in Heimen. Opfer privater Einrichtungen warten auf Aufarbeitung.

Foto: Heribert Corn

Herrn V. hat das Leben nicht verwöhnt. Geboren im ehemaligen Jugoslawien, als Kleinkind nach Wien, zu seinen Eltern "verschickt", die als sogenannte Gastarbeiter einen schwierigen Neuanfang wagten, landete er mit sechs Jahren in der Neulandschule im 13. Bezirk. So weit, so unproblematisch.

Wären da nicht die häuslichen Umstände gewesen: beengte Wohnverhältnisse, beide Eltern Alkoholiker. Als Volksschüler, von 1977 bis 1979, kam er in die Neulandschule und ins angeschlossene Internat am Diesterweg. Schule und Internat hatten einen guten Ruf, Herr V. sagt, die Eltern hätten ihm "bestimmt etwas Gutes tun" wollen, sie zahlten immerhin 4000 Schilling im Monat für die Unterbringung. Doch das Internat "war die Hölle", erinnert sich V.

Grausame Strafen

Schon bei den geringsten Vergehen habe es Strafen gesetzt, etwa wenn Hausaufgaben "nicht schön" geschrieben waren, wenn er zu einer bestimmten Zeit nicht geschlafen habe (was ihm aus Angst nicht gelang), wenn er den Tee mit Milch nicht trinken wollte. Wenn er sich erbrach, setzte es Ohrfeigen, "Kopfnüsse", Schläge mit der flachen Hand auf die Stirn – oder er musste in einer Ecke hocken, mit ausgestreckten Armen, auf denen zur Beschwerung eine Decke lag.

Am schlimmsten erging es ihm aber mit einem Mann, den er bis heute nicht näher beschreiben kann. Dieser holte ihn, nachdem V. wegen einer Vorhautverengung operiert worden war, zur "Narbenkontrolle" in ein Zimmer und missbrauchte ihn fortan mehrere Monate lang regelmäßig, bis V., auf Antrag des Jugendamtes, bald in weitere, diesmal städtische Kinderheime kam.

Lückenhafte Erinnerung

Dort erging es ihm zum Teil besser (etwa in der "Stadt des Kindes"), zum Teil ebenso schlecht wie in dem privat geführten Internat. Für das, was V. etwa in der Kinderübernahmestelle in der Lustkandlgasse oder in Eggenburg erlitten hat, bekam er vom Opferschutzverein Weißer Ring ein malig 20.000 Euro Entschädigung ausbezahlt.

Nach einer Lebenskrise, einer längeren Haftstrafe und sechs Jahren Psychotherapie wollte Herr V. allerdings auch an den Anfang seiner "Heimkarriere" zurückkehren – was nicht so einfach war, da er eine, wohl auch traumatisch bedingt eher lückenhafte Erinnerung an diese Zeit hat.

Der Weiße Ring konnte V. in diesem Fall nicht helfen, da es sich nicht um ein städtisches Kinderheim gehandelt hatte. Er landete bei der Ombudsstelle der Erzdiözese Wien für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche, nach der Vorsitzenden Waltraud Klasnic "Klasnic-Kommission" benannt. Dort half man ihm zumindest, den Nachfolgeverein des Internats auszuforschen – eine kirchliche Einrichtung war der Diesterweg auch nicht gewesen.

Abweisender Brief

Ein Schreiben an den, wie V. vermeinte, Rechtsnachfolger "Verein Internat Brigittenau" brachte Ernüchterung. Umgehend schrieb ihm dessen Anwalt: Erstens sei das Internat 1982 geschlossen worden. Unterlagen seien "nicht mehr vorhanden", eine Überprüfung von V.s Vorwürfen "nicht möglich", zudem sei V. der Einzige, der sich mit derlei Vorwürfen gemeldet habe. Und die Vorfälle seien sowieso verjährt. Das Ansuchen um Entschädigung wies der Anwalt "namens meiner Mandantschaft" zurück.

V. sagt, das Schreiben habe sich angefühlt, "als habe mir jemand ins Gesicht gespuckt". Es gehe weniger um Entschädigung als vielmehr darum, "dass jemand eingesteht, dass Fehler passiert sind – und sich bei mir entschuldigt".

Problem Verjährung

Die Verjährungsfristen empfindet auch Marianne Gammer, Geschäftsführerin des Weißen Rings, als schwierig: "Das ist tatsächlich in 99 Prozent der Fälle so." Wie DER STANDARD berichtete, will der Regisseur und Theatermacher Karl Welunschek, ebenfalls ein ehemaliges Heimkind, die Aufhebung der Verjährungsfristen vor dem Menschenrechtsgerichtshof einklagen.

Die Stadt Wien – und auch die Klasnic-Kommission – zahlt zumeist dennoch Entschädigungen aus. Im Fall von Herrn V., bei dem weder eine städtische noch eine kirchliche noch eine Bundeseinrichtung verantwortlich zu machen ist, sei die Sache noch komplizierter.

Seltene Fälle

Gammer: "Solche Fälle kommen selten, aber doch immer wieder vor. Wir können wenig tun." Wenn das Kind nicht "von Amts wegen" aus der Familie genommen wurde, existierten oft keine Unterlagen, Nachweise seien schwierig zu erbringen.

Die Frist für Heimopfer der Stadt Wien, die Ansprüche anmelden wollten, endete übrigens am 31. März dieses Jahres. Bis dahin wurden 2705 Fälle bearbeitet, in 2048 wurde finanzielle Unterstützung beschlossen. Die Opfer bekamen im Schnitt rund 17.000 Euro, insgesamt wurden 36 Millionen Euro ausbezahlt. Kostenübernahmen für Therapien werde es aber, trotz abgelaufener Frist, weiter geben, betont die zuständige Stadträtin Sonja Wehsely (SPÖ).

Grundsätzlich einig

Marianne Gammer hält Herrn V.s Fall für ein "Beispiel dafür, dass eine nationale Entschuldigungszeremonie dringend notwendig wäre". Darauf hat man sich zwischen Regierung und Ländern zwar grundsätzlich bereits 2010 verständigt – passiert ist bisher nichts.

Im rot-grünen Koalitionsübereinkommen in Wien ist zu lesen, wenn diese Geste nationalen Bedauerns auf Bundesebene ausbleibe, werde es eine "Wiener Entschuldigungszeremonie" geben – aber erst Ende 2017. Warum alles so lange dauere? Eine städtische Reuegeste sei nicht, worauf die Opfer warteten: Ein Staatsakt mit den höchsten Vertretern der Republik sei der Wunsch vieler, sagt der zuständige Experte der Kinder- und Jugendwohlfahrtsabteilung (MA 11).

An den Ländern liegt es in dem Fall nicht: Bereits im März 2015 schickten die Landes-Jugendreferenten einen gemeinsamen Brief an den Bundeskanzler mit der dringenden Empfehlung – und Bitte –, eine solche nationale Entschuldigungszeremonie für missbrauchte und misshandelte Pflege- und Heimkinder auszurichten.

Der Bundeskanzler ist mittlerweile ein anderer, Christian Kerns (SPÖ) Büro suchte bei Redaktionsschluss noch den Brief – und eine Antwort auf die Anfrage.

Vorbild Schweden

Wie ein solcher Staatsakt aussehen könnte, hat Schweden vorgezeigt: Am 21. November 2011 fand in der "Blauen Halle" im Stockholmer Rathaus, wo sonst die Nobelpreis-Bankette stattfinden, in Anwesenheit von Königin Silvia, Regierungsvertretern, Exponenten aller im Parlament vertretenen Parteien und ehemaligen Heim- und Pflegekindern ein feierlicher Staatsakt statt. Der Parlamentspräsident bat die Opfer in aller Form um Vergebung.

Ein halbes Jahr später erließ die Regierung ein "Wiedergutmachungsgesetz", dotiert mit 1,5 Milliarden Kronen (rund 147 Millionen Euro). Wie ein Opfervertreter damals sagte, sei dies ein wichtiger Schritt in Richtung "Heilung und Abschluss" gewesen. (Petra Stuiber, 11.7.2016)