Kennen Sie Kairos? Den Glücksgott Kairos? In der griechischen Mythologie verkörpert er den günstigen Zeitpunkt. Und er erinnert daran, dass dessen ungenutztes Verstreichen überaus nachteilig sein kann. Dargestellt wird dieser sportive griechische Gott meist als junger Mann mit rasiertem Schädel, aber einem üppigen Haarschopf an der Stirn. Die Symbolik ist nicht schwer zu deuten: Wenn uns Kairos durch sein Erscheinen die Gunst der Stunde erweist, gilt es die Gelegenheit am Schopf zu packen. Zögern und zaudern wir aber und verpassen den Moment, so entwischt uns Kairos. Folglich greifen wir ins Leere: auf seine Glatze. Und stolpern. Rutschen Kairos womöglich auch noch den Buckel runter. Ja, Kairos trägt Flügeln an den Füßen, ist entsprechend flink und wer ihn zu lange angafft, ohne zu handeln, hat seine Chance vertan.

Auf des Messers Schneide

Kairos trägt die Zeit in Händen. Und er wägt sie ab. In Darstellungen weist seine rechte Hand auf die sinkende Waagschale der Zeit hin, mit seiner linken balanciert er die Waage selbst und zwar auf einer Klinge. Wohl um uns zu demonstrieren, an welch entscheidend heiklem Punkt unserer Zeit wir stehen; wie sehr auf des Messers Schneide.

An diesem Punk befinden wir uns nun also. Im Antlitz Kairos', dem Glücksgott der seltenen Gelegenheit. Wir sehen ihn doch alle vor uns, nicht wahr? Sehen ihn drohend und einladend zugleich. Mit Glatze, doch auch mit üppigem Schopf.

All die Dinge, mahnt uns Kairos, die wir lange schon als notwendig anerkannt, doch nicht durchgeführt haben, all die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen, all das, was wir uns in Österreich seit zig Jahren schon wünschen. "Nun!", ruft Kairos, "Jetzt oder nie!"

Kanzler und Vizekanzler zumindest scheinen Kairos' Erscheinen richtig gedeutet zu haben. Sie wissen, dass sie die Gelegenheit jetzt am Schopf packen müssen oder bald genötigt sein werden, der Geschichte wohl den Buckel runter zu rutschen.

Was aber ist nun nötig, dieses "Window of opportunity" zu nutzen? Was ist jetzt das Entscheidende?

Offenheit. Unser aller Offenheit ist das Entscheidende. Und: die Beweglichkeit des Denkens.

Wir alle, Interessensvertreter, Regierung, Opposition, SPÖ, ÖVP, FPÖ, Grüne, Neos, Gewerkschaften, Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung, Beamte, Berater, Experten, Selbständige und Unselbständige, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, ja wirklich wir alle hierzulande sind gefordert: unsere Scheu abzulegen. Unsere Scheu vor dem bisher Undenkbaren. Dem neu zu Denkenden.

Diese Scheu ist uns zum Reflex geworden – auf alles, was nicht in unseren Blickwinkel passt. Diese Scheu ist uns mit der Zeit passiert. Und diese Scheu hat uns sozialisiert. Sie ist uns zur schlechten, zur uns einengenden Gewohnheit geworden. Und damit zur Gewohnheit (da wir alle in ihr gefangen sind), die unsere gesamte Gesellschaft einengt, unseren gesamten Staat.

Kairos. Vielleicht balanciert er die Waage der Zeit ja auch deshalb auf des Messers Schneide, weil er uns freundschaftlich mahnt, unsere Vorurteile, unsere standardisierten Antworten, die gewohnheitsmäßigen Reflexe und unser kleinkarierten Bindungen zu zerschneiden, die uns in der Vergangenheit gefangen halten und uns folglich die Zukunft versperren.

Seit Kanzler Christian Kern und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner gemeinsam und nicht gegeneinander arbeiten, sehe ich ein Licht am Ende des Tunnels. Mitunter scheint mir dieses Licht zu flackern, unstet zu werden. Doch ich will an dieses Licht glauben.

Noch freilich befinden wir uns im Tunnel, im dunklen Schatten all der zurückliegenden Versäumnisse. In diesen Tunnel gerieten wir, weil die handelnden Personen von A bis Z nicht ausreichend auf eine einfache Weisheit achteten. Eine Weisheit, die der Literaturnobelpreisträger Albert Camus folgendermaßen formulierte: "Wer etwas will, findet Wege. Wer nicht will, findet Gründe."

Nicht nur Österreich, die gesamte westliche Welt steht, so scheint es, an einer Zeitenwende.

· Großbritannien stolpert mit dem Brexit aus der EU.

· Dass in Frankreich und den Niederlanden dasselbe geschieht, kann heute – so unglaublich es gestern noch geklungen hat – nicht mehr ausgeschlossen werden.

· Und damit das Zerbrechen Europas.

· Zeitgleich hat in den USA doch tatsächlich Donald Trump die Chance, nächster Präsident der weltweiten Führungsmacht zu werden.

· Und in praktisch ganz Europa gewinnen tolldreiste Populisten vom äußersten rechten und linken Rand an Zuspruch.

Manchen mag es angesichts all dieser Verwerfungen scheinen, die Menschheit verliere den Verstand. Doch diese Diagnose träfe nicht den Punkt. Der Punkt ist schlicht und einfach: Die Menschen verlangen nach Antworten und nach Lösungen. Und die Menschen verlangen es schon sehr lange. Und nun orientieren sie sich nach jenen, die – wenn sie auch ebenfalls keine Lösungen anbieten – zumindest am lautesten ihre Wut und ihre Sorgen artikulieren.

Tatsächlich stehen wir globalen Phänomenen gegenüber:

· Die Arbeitswelt 4.0 wird weitere Millionen von Jobs kosten.

· Der Flüchtlingsstrom hält an.

· Die Mittelschicht verliert weiter an Boden.

· Die sozialen Spannungen wachsen.

· Klein- und Mittelunternehmen werden hochbesteuert und hochbürokratisiert, während globale Multis sich weiterhin abputzen können.

· Gewalt, Terror, Separatismus und Nationalismus haben Konjunktur.

In Summe droht uns in der westlichen Welt nicht weniger, als dass unser soziales und demokratiepolitisches Gefüge auseinanderbricht.

Wenn die politische Mitte, wir, es nicht schaffen, diese Probleme zu lösen, wenn die Antworten auf all diese brennenden Fragen nicht von der Mitte der Gesellschaft kommen, dann werden die Antworten, welche auch immer das sein mögen, von den radikalen politischen Rändern kommen. Eine Zukunft unter solchen Bedingungen möchte ich mir nicht ausmalen müssen.

Kairos lädt uns ein

Kairos, der Gott der Gelegenheit, er lädt uns dringend ein. Wenn uns unsere Vorurteile, unsere engen, vorgefassten Meinungen weiterhin daran hindern, flexibel, geistig frisch und lösungsorientiert zu sein, wenn wir weiterhin nur dem politischen Gegner, dem Verhandlungspartner, den anderen die Schuld am Stillstand geben, wird uns nicht das Schicksal überrollen, sondern unsere Unzulänglichkeit, sozial intelligent und intellektuell beweglich zu sein.

Auf der großen Zeituhr, mahnt uns der spanische Dichter Cervantes, steht nur ein einziges Wort: Jetzt. (Sigi Menz, 8.7.2016)