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Die Polizei war nicht immer derart präsent, in den Stadien kam es doch zu einigen Vorfällen. Aus Angst vor dem Terror wurden manch andere Gefahren unterschätzt.

Foto: Reuters/Pfaffenbach

Der Tsunami kam aus dem Nichts. Es war am vergangenen Samstagabend in Paris, als sich in der Fanmeile am Eiffelturm urplötzlich eine riesige Menschenmenge in Bewegung setzte. Tausende rannten anderen nach, die schon anderen nachrannten. Viele schrien, kreischten, obwohl ihnen nichts zugestoßen war. Irgendwo war ein Kracher losgegangen – genug, um eine Massenpanik auszulösen.

Zum Glück ist das Marsfeld so riesig, dass sich die Menge verlangsamte und beruhigte, bevor sie die hermetisch abgeschotteten Ausgänge erreicht hatte. Sonst hätte die Stampede tragisch ausgehen können. Auf der Leinwand ging das Spiel Deutschland gegen Italien in die Verlängerung. Doch die Fanmeile hatte sich geleert, die Verbliebenen verfolgten den Matchausgang nur noch abwesend. Der Vorfall war symptomatisch für diese EM. Sie stand im Zeichen der permanenten Gefährdung, ja der Gefahr. Selbst das Gastgeberland war nicht ganz bei der Sache. Wie konnte es auch. Nach den Terroranschlägen in Paris und dem nahen Brüssel, die fast 200 Menschenleben gekostet hatten, befindet sich Frankreich immer noch im polizeilichen Ausnahmezustand. 90.000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz; angeleitet werden sie rund um die Uhr aus einem unterirdischen Bunker im Innenministerium neben dem Élysée-Palast.

Knall und Flucht

Die Sicherheitsfrage ist omnipräsent. Um zum Beispiel in die Pariser Fanmeile zu gelangen, muss man drei schulterenge Schleusen passieren, an zwei wird man auf verbotene Gegenstände abgetastet, nicht nur der Form halber. Vielleicht nur unbewusst, kaum ausgesprochen, aber dennoch: Die Angst spielt mit. Sonst könnte ein Feuerwerksknall keine Massenflucht verursachen.

Das ist vielleicht die wichtigste Lektion dieser zu Ende gehenden Fußball-EM: "Ein Nullrisiko", wie OK-Präsident Jacques Lambert mehrfach sagte, "gibt es nicht". Nicht mehr, wäre anzufügen: Ein Anschlag wie am Marathon von Boston 2013 ist heute eine Möglichkeit, mit der Besucher harmloser Sportanlässe heute zu rechnen haben. Frankreich wappnet sich speziell; Tausende von Gendarmen wechseln dieser Tage fliegend zur Tour de France. Aber auch bei den Olympischen Spielen im fernen Rio de Janeiro wird im August mit allem gerechnet.

Die Fußball-EM wird am Sonntag – noch ist zu präzisieren: hoffentlich – besser enden, als sie begonnen hatte. Die französische Polizei und Regierung war dermaßen auf die Terrorgefahr fixiert, dass sie das Hooligan-Problem offensichtlich unterschätzten. Britische und russische Schläger erwischten sie in Lille und danach in Marseille auf dem falschen Fuß. Spät, zu spät griffen die Ordnungshüter ein. Sie verhafteten 557 "Fans", und die Justiz hat deren 27 im Eilverfahren zu teilweise unbedingten Haftstrafen verurteilt; 25 Ausländer, darunter der russische Rechtsextremist Alexander Schprygin, wurden des Landes verwiesen. Auch die Behörden reagierten zu spät: Erst als Russland gegen die Slowakei spielte, schickten sie 700 zusätzliche Flics in die nordfranzösische Stadt Lens.

Lückenhaft

Auch dieses Großaufgebot konnte nicht verhindern, dass während des Spiels eine bengalische Fackel gezündet wurde. Wie war sie durch die engen Schleusen ins Stadion gekommen? Wie konnten kroatische Fans in Saint-Etienne Rauchbomben hineinschmuggeln? Wie konnte ein Portugiese auf das Spielfeld gelangen und Cristiano Ronaldo ein Selfie abverlangen?

Letztlich gab es in den Stadien mehr Sicherheitslücken als in den Fanmeilen, die als die größten Gefahrenzonen gegolten hatten. Viele Experten hatten deren Schließung vor EM-Beginn gefordert. Die Organisatoren lehnten dies ab – die Uefa zweifellos auch aus kommerziellen Überlegungen, die französische Regierung, weil sie den Jihadisten und anderen Angstmachern nicht recht geben wollte. Bei aller Kritik an den Sicherheitsmängeln ist den französischen Behörden auch eine gewisse Souplesse zu attestieren. Ihnen gelang es in der Mehrheit der Fälle, das Dilemma zwischen Polizeikordons und Festatmosphäre flexibel zu handhaben und das Sportfest nicht in eine Militäroperation zu verwandeln.

Kooperation

Noch etwas haben die Organisatoren gelernt: Die internationale Koordination und Kooperation wird immer wichtiger. 14 Staaten des Europarates haben zufällig während der Fußball-EM eine Konvention unterzeichnet, um Fußballspiele und andere Sportveranstaltungen sicherer zu gestalten. Generell soll der Dialog zwischen allen Beteiligten besser werden. "Eines der größten Probleme des Fußballs bleibt die Gewalt", meinte Uefa-Vizepräsident Michael van Praag bei der Unterzeichnung des Abkommens. Das Problem der Gewalt beschränkt sich nicht mehr auf den Fußball: Es ist ein gesellschaftliches, letztlich ein politisches Problem. Der Fußball mag zum Teil selber Gewalt generieren, er ist aber auch ein Opfer.

Die Zeiten, als seine Großanlässe noch reine Sportanlässe waren, sind vorbei. Der Sport hat seine Unschuld verloren. Auch wenn das nicht einmal seine Schuld ist. (Stefan Brändle, 9.7.2016)