Kate Tempest, 30, ist Rapperin, Lyrikerin, Dramatikerin – und nun auch Romanautorin. Superlative lasten auf ihrem Werk.

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Kate Tempest, "Worauf du dich verlassen kannst". € 15,50 / 400 Seiten. Rowohlt, 2016

Cover: Rowohlt

Kate Tempest, "Hold Your Own". Gedichte. € 16,50 / 240 Seiten. Suhrkamp, 2016

Foto: Surhrkamp

Als wir sie kennenlernen, sind die drei auf der Flucht. Schnell preschen die kurzen Sätze voran. Randvoll mit Wut. Schlag auf Schlag. Beißend, abgeklärt, desillusioniert. Knappe Bemerkungen, körperlich, aggressiv. "Es kriecht dir in die Knochen", steht da über die Straßen Londons, "die Geister von damals, sie alle sind da draußen. Es hört niemals auf." Diese Geister, sie verfolgen Becky, die Tänzerin, die für ihren Lebensunterhalt manchmal die Masseuse für einsame Männer gibt, die Dealerin Harry, deren Geschäftspartner Leon. Kennengelernt haben sich Becky und Harry ein Jahr zuvor. Rückblende. Die Erzählung bremst.

Die beiden verbringen einen prickelnden Abend, verlieren einander wieder aus den Augen. One-Night-Stands ja, Liebe nein, lautet Beckys Regel: "Alles, was über lockere Beziehungen hinausgeht, überfordert sie. Zu schmerzhaft. Du gibst zu viel, sie nehmen zu viel, und plötzlich ist man leer und hält selbst die Hand auf." Dann trifft sie diesen jungen Mann, der sie auf ihre Familiengeschichte zurückwirft, sie verliebt sich in ihn. Was sie nicht weiß: Pete ist Harrys Bruder. Erst spät treffen die beiden jungen Frauen wieder aufeinander – natürlich als Pete Becky der Familie vorstellt. Bis dahin tragen sie zwei unabhängige Handlungsstränge: den einer Liebes- und den einer Drogengeschichte. Beide gehen schief. Siehe oben: die Flucht.

BigaDada

Worauf du dich verlassen kannst lautet der Titel von Kate Tempests Romandebüt. Tempest wie der Sturm, Tempest wie bei Shakespeare. Geboren wurde sie 1985 allerdings als Kate Esther Calvert. Mit 16 Jahren schmiss die Tochter eines Anwalts und einer Lehrerin die Schule, um auf dem rauen Pflaster des Londoner Südostens zu rappen. Vor zwei Jahren dann erschien ihr erstes Soloalbum Everybody Down. Das Leben ist groß, wir haben es klein gemacht; nichts lässt sich verdrängen; nichts ist über dir, tu, was du tun willst – davon singt sie darauf. Kein Ficken, kein Bitch, sondern kraftausdrucklose Durchhaltebotschaften, Mutmacher. Und Muntermacher: Wacht auf! Damit hat der rotblonde Lockenkopf mit dem weichen Gesicht es in die Herzen der Kritiker und seither auch auf sämtliche Festivalbühnen der Insel geschafft.

Shakespeare, Vuitton, Straße

Mittlerweile liegt ihr dort aber auch die Literaturkritik zu Füßen. Für ihr Langgedicht Brand New Ancients hat sie 2013 den Lyrikpreis der britischen Poetry Society gewonnen – nie zuvor war er an einen Autor unter 40 gegangen. Dass sie mit Louis Vuitton gearbeitet und Kunststar Chris Ofili eines ihrer Gedichte illustriert hat, sind verglichen mit Tempests drei Theaterstücken, zwei Lyrikbänden und einem Auftragstext für die Royal Shakespeare Company Trivia. Ihr Lieblingsplatz in der Stadt soll trotzdem oder deswegen eine schummrige Bar sein.

Ob sie ein solches Versteck bald auch hierzulande brauchen könnte? Worauf du dich verlassen kannst ist eine Auskopplung des Albumdebüts. Die in Everybody Down eingeführten Figuren hat Tempest für die Langfassung mit "Empathie" statt Beats aufgefettet. Zu diesem Zweck verpasst sie allen reichlich Biografie: finanzielle Not, Scheidung, Gefängnis, Sekte, Sexarbeit, Drogen, Perspektivlosigkeit.

Ganz viele kleine und größere Hollywoodfilme stecken in den Lebensresümees, die sie zwischen die eigentlich doch recht konventionelle Handlung schiebt. Die erzählt Tempest aber locker und schnurstracks. Worte kann sie: schöne und kluge. Sie beherrscht die schnelle Zeichnung von Milieus. Die Geschichte spielt in den Wohnungen "kleiner Leute", in einem Cafe von Verwandten, einem zwielichtigen Clubkeller, auf einer schicken Musiklabel-Party. Und das Feuilleton ruft beglück: Authentisch! Endlich wieder echtes Leben!

Optionen auf später

Wer sie sind, das wissen diese Mittzwanziger und Dreißiger zwischen den verschiedenen Entwürfen von sich selbst und den einsamen Stunden (in dieser Stadt, in diesem Buch sind alle einsam) nämlich nicht. Sie leben in biografischen Transitzonen, in Optionen auf später. Die Welt ist seelenlos und dafür trendy geworden. Ein Business. Was fehlt: es ernst meinen. Was sie aus Hilflosigkeit tun, tun sie also in besten Absichten. Aber gut wird es nicht.

Daran ist genauso viel Wahrheit wie Gemeinplatz. Stärker noch zeigt sich das in dem im englischen Original schon 2014, in zweisprachiger Ausgabe aber beinah zeitgleich mit Worauf du dich... erschienenen Hold Your Own (Suhrkamp). Darin sind kürzere und sich zu kleinen Geschichten auswachsende Gedichte Tempests versammelt: über Liebe, repressive Lebensumgebungen, Geschlechterungleichheit. Nicht immer reimen sie sich. Im Gegenteil ist kein einheitliches Versmaß auszumachen. "Die Jungs haben Fußball und Skaterrampen. / Die Mädchen haben Schamgefühl", heißt es darin. Oder: "Ich sah die besten Köpfe meiner Generation an / Ratenzahlungen zugrunde gehen."

Man kann und will Tempest die Abbildung sozialer Realitäten nicht absprechen. Aber über den populär liberalen, antikapitalistischen, digitalisierungsskeptischen etc. Weltanklagen hängt mitunter ein so moralisierender, schwarz-weiß zeichnender Ton, dass er spätestens im verallgemeinernden "Wir" oft unheimlich nervt. Das ergibt prekäre Panoramen, aber keine Offenbarungen. (Michael Wurmitzer, Album, 8.7.2016)