Alle modernen demokratischen Staaten sind repräsentative Demokratien. Das bedeutet, dass die Wähler politische Entscheidungen meist nicht selbst treffen, sondern Repräsentanten wählen, die das in ihrem Sinne erledigen sollen. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage, wie gut die Abgeordneten ihre Wähler repräsentieren.
In der Politikwissenschaft unterscheidet man unter anderem zwischen deskriptiver und substanzieller Repräsentation. Substanzielle Repräsentation meint, dass Abgeordnete Entscheidungen im Sinne ihrer Wähler treffen. Deskriptive Repräsentation bedeutet, dass Abgeordnete und Wähler einander ähneln – etwa in puncto Alter, Geschlecht oder Herkunft.
Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass deskriptive und substanzielle Repräsentation miteinander zusammenhängen: Abgeordnete aus der Arbeiterklasse stimmen anders ab als jene aus der Mittelschicht, ein höherer Frauenanteil im Parlament korreliert mit höheren Sozialausgaben, und die Präsenz von Abgeordneten, die Minderheiten angehören, hat ebenfalls Einfluss auf die Sozialpolitik.
Werfen wir einen Blick auf den österreichischen Nationalrat und das Ausmaß deskriptiver Repräsentation. Die erste Grafik zeigt, wie sich der Anteil von Frauen und Akademikern unter den Abgeordneten seit 1945 entwickelt hat.
Lange waren weiblich Abgeordnete eine verschwindend kleine Minderheit. Erst in den 1980er-Jahren begann ihr Anteil zu steigen. 2002 erreichte er zum ersten Mal rund ein Drittel und hat sich seither nicht weiter erhöht. Trotz dieser deutlichen Zunahme liegt der Frauenanteil im Nationalrat also noch immer deutlich unter den 51 Prozent in der Gesamtbevölkerung.
Ganz anders verhält es sich beim Akademikeranteil. Auch hier sehen wir einen starken Anstieg im Verlauf der Zeit. 1994 hatten sogar 51 Prozent der Abgeordneten einen Hochschulabschluss – danach sind es geringfügig weniger. Zu jedem Zeitpunkt während der letzten 70 Jahre waren also Akademiker im Nationalrat massiv überrepräsentiert (2013 betrug die Akademikerquote in Österreich rund 14 Prozent).
Die zweite Grafik zeigt die Altersverteilung im Nationalrat im Vergleich mit jener in der Bevölkerung (Personen unter 16 ausgenommen). Wenig überraschend: Mittlere Altersgruppen sind deutlich überrepräsentiert. Fast 70 Prozent der Abgeordneten sind zwischen 41 und 60 Jahre alt – aber nur ein gutes Drittel der Bevölkerung über 15 Jahre fällt in diese Gruppe. Auffällig ist auch, dass im Nationalrat niemand über 70 Jahre alt ist (wiewohl die Bundespräsidentenwahl gezeigt hat, dass es in dieser Altersgruppe durchaus politisch aktives Personal gäbe).
Zuletzt noch ein Blick auf den beruflichen Hintergrund der Abgeordneten. Primärer (Landwirtschaft) und sekundärer (Produktion) Sektor sind mit je sieben Prozent vertreten. Während der Agrarsektor somit etwas überrepräsentiert ist (4,5 Prozent der Erwerbstätigen oder rund zwei Prozent der Bevölkerung), sind Industrie und produzierendes Gewerbe, die ein Viertel der Erwerbstätigen (zwölf Prozent der Bevölkerung) stellen, unterrepräsentiert.
Stark überrepräsentiert sind auch die freien Berufe: 15 Prozent der Abgeordneten stehen zwei Prozent der Erwerbstätigen (ein Prozent der Bevölkerung) gegenüber. Derselbe Befund kann wohl für die Angestellten von Sozialversicherungen, Parteien und Interessenvertretungen gelten, wiewohl hier keine offiziellen Informationen über die Zahl der Erwerbstätigen vorliegen.
Man kann die Liste der Merkmale, nach denen man Abgeordnete und Bevölkerung vergleicht, natürlich beliebig erweitern: Religionsbekenntnis, Migrationshintergrund, Behinderung oder sexuelle Orientierung sind etwa mögliche Kandidaten. Bei all diesen Merkmalen ist es naheliegend, dass sie Einfluss auf das Verhalten der Abgeordneten im Parlament hätten.
Die Frage, welche Kriterien für die Repräsentation relevant sind, ist also selbst ein wichtiger Teil der politischen Diskussion. Beim Merkmal Geschlecht etwa haben sich einige Parteien Quoten für die Erstellung von Wahllisten verordnet – mit gemischtem Erfolg. Eine "Quote" für regionale Herkunft wiederum ist durch das Wahlrecht mit Landes- und Regionalwahlkreisen festgeschrieben. Informell gibt es vor allem bei SPÖ und ÖVP Mechanismen, die garantieren, dass bestimmte innerparteiliche Gruppen (Bünde, Gewerkschafter) nicht zu kurz kommen.
Natürlich ist es unrealistisch zu erwarten, dass ein Parlament die Bevölkerung demografisch perfekt abbildet. Allein schon deshalb, weil sich Personen, die eine politische Karriere anstreben, systematisch vom Rest der Bevölkerung unterscheiden. Man muss sich aber dessen bewusst sein, dass die Über- oder Unterrepräsentation bestimmter Gruppen gravierende Konsequenzen in der politischen Entscheidungsfindung haben kann. Deshalb ist eine hohe Diversität von Lebenserfahrungen und eine Vielzahl gesellschaftlicher Perspektiven im Parlament ein Wert an sich. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 7.7.2016)