Während sich die Bewohner der unteren Stockwerke des Hochhauses in "High-Rise" schon Kämpfe liefern, nimmt das Charlotte Melville (Sienna Miller) weiter oben noch amüsiert zur Kenntnis.

Thimfilm

Wien – Wie sagt man zu einer Zeit, die in der Vergangenheit Zukunft sein sollte? Diese Frage wirft Ben Wheatleys Film High-Rise durch die Wahl seines Stoffes auf. Es handelt sich um die aktuelle Adaption eines dystopischen Romans von J. G. Ballard aus dem Jahr 1975. Ziemlich heutig wirken darin die Figuren, allen voran der Protagonist Dr. Robert Laing, ein Mediziner, den Tom Hiddleston als Bild vom modernen Mann konturiert: ein slicker Anzugträger, dünn und durchtrainiert, der eher an fitte Managertypen erinnert, statt die leicht obskuren Vorstellungen zu bedienen, die das Kino sich gewöhnlich von Pathologen machen würde.

Laing ist neu in dem Wohnturm, in dem High-Rise fast ausschließlich spielt. Wie eine Sonde bewegt er sich durch die Etagen, die der Film als gesellschaftliche Schichten beschreibt. Während auf der Dachterrasse des Architekten mit dem sprechenden Namen Royal (Jeremy Irons als Echo der obsessiv-kühlen Charaktere aus David-Cronenberg-Filmen) ein Pferd Auslauf hat, wohnt es sich unten prekärer.

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Keineswegs haben alle Bewohner die gleichen Privilegien, und die Konflikte aus unterschiedlichen Schwimmbadzugängen und der Stromverteilung eskalieren bald in existenziellen Auseinandersetzungen und dezivilisierender Verwüstung. "Drei Monate früher", veranschlagt das Insert am Beginn des Films den Zeitraum, den es braucht, um vom gesitteten, grundsätzlich höflichen Miteinander an den Punkt zu kommen, an dem ein Mann sich einen Hund grillt, weil er überleben will.

Die Szene mit dem Hund ist fix erzählt im Film: ein Blick auf das Tier (Kamera: Laurie Rose), ein Schnitt, und schon dreht sich eine notdürftig befestigte Keule auf blankem Kupferrohr über offenem Feuer. Das Stilbewusstsein, das sich in der krassen Anordnung zeigt, der Sinn fürs Material, ist charakteristisch für den Film – wenn man nicht sogar sagen könnte, Wheatley habe High-Rise vor allem verfilmt, um einen einstmals zukünftigen Ort mit der Eleganz von Retro-Optiken auszustatten.

Mark Tildesley, der für das Production-Design verantwortlich zeichnet, dürfte seine Freude daran gehabt haben, das Warenangebot für einen kompletten Supermarkt zu erfinden, höfische Mottopartys einzukleiden oder auch nur den minimalistischen Look eines Französisch-Lehrbuchs in Auftrag zu geben, mit dem Laing einkaufen geht.

Die Lust an Oberflächenreizen schließt die Körper der Darsteller ein, weshalb die wohl triftigste Szene des Films der Moment ist, in dem der Suizid eines Hochhausbewohners sich in Superzeitlupe auf der Motorhaube eines Autos abbildet. Der Fuhrpark ist von der fröhlichen Buntheit, die Automodelle zur Entstehungszeit von Ballards Buch hatten; von 1975 stammt auch der ABBA-Song SOS, den die britische Band Portishead covert.

Ornament statt Politik

Auf diesen Ebenen funktioniert High-Rise jedenfalls am besten: als Stilstudie, die cliphaft schöne Formen kompiliert. Die Großerzählung mit der in die Vertikale verlagerten, implodierenden Klassengesellschaft produziert keine Spannung, auch wenn Architekt Royal etwas von einem Experiment redet, einem "Schmelztiegel der Veränderung".

Dafür interessiert sich Wheatley zu wenig für den Plot, Psychologie oder Identifikation. Wenn am Ende Margaret Thatcher aus dem Off dem Marktfetisch des Mitte der 1970er-Jahre anbrechenden neoliberalen Zeitalters huldigt, erscheint das mehr als akustisches Ornament (die snobistische Stimme als Soundeffekt) denn als politischer Zusammenhang.

In diesem Sinne wäre eine Antwort auf die Frage, in welcher Zeit eine Zukunft spielt, die sich vor 40 Jahren ausgedacht wurde: unsere Gegenwart. Die macht sich die Mühe, die der Film scheinbar ausprobiert, Sozialwohnungsbau als gelingende Form gesellschaftlicher Integration zu denken, schon lange nicht mehr. (Matthias Dell, 7.7.2016)