"Heute sind hier wieder mal die Massen unterwegs." Werner Mairl sprach's – und zog davon. Den Hügel hinauf. Und als er mir wenige Minuten später wieder entgegenkam, klärte er mich auf: Ich sei, lachte Mairl, falsch angezogen. Schließlich sei heute als Motto doch "Grau" ausgegeben worden – und alle, wirklich alle, hätten sich Mühe gegeben, diesem Dresscode zu folgen. Nur ich nicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Stimmt. Aber ich kann das erklären: Ich war gar nicht hier, um als Teil der Gruppe zu laufen. So weit bin ich noch nicht. Noch lange nicht. Auch wenn diese Gruppe nicht nach einer oder zwei Tempovorgaben unterwegs ist, sondern sich schlicht und einfach über Ort & Zeit des Laufens definiert: "Frühlauftreffer Rollover Schönbrunn" heißt sie – und ihre über eine gleichnamige Facebookgruppe organisierten Mitglieder ziehen jeden Donnerstag um halb sieben Uhr in der Früh im Schlosspark ihre Runden. Jeder und jeder im eigenen Tempo – aber doch irgendwie gemeinsam.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass ich vergangenen Donnerstag da – am Rande – mitlief, war einfach Zufall. Wobei: Dass die Damen und Herren unterwegs sein würden und dass ich ihnen über den Weg laufen würde, war mir natürlich klar gewesen, als ich mich kurz nach sechs Uhr auf den Weg zum Schloss gemacht hatte – am Donnerstag ist die "Rollover"-Partie im Schlosspark unvermeidlich. Bei wirklich jedem Wetter und zu absolut jeder Jahreszeit im Allgemeinen – und auf den Serpentinen zwischen Gloriette und Parkette im Besonderen.

Foto: Thomas Rottenberg

Im Winter, im Dunkeln, "gehört" der Park der Laufgruppe reichlich exklusiv. Im Sommer aber ist Mairls Ansage von den "Menschenmassen" durchaus zutreffend. Wenn man die Relationen zwischen Sommer und Winter kennt – aber auch, wenn man unbefangen beim Öffnen der Schlossparktore dabei ist: Da ist dann richtig was los. Und es sind längst nicht nur Hardcore-Läuferinnen und -Läufer, die in Sisi's Playground strömen, um sich zu bewegen, bevor entweder die Hitze oder die Touristenmassen oder beides jeden flotteren Schritt verhindern: Nordic Walker, Gymnastik- und Yoga-Freunde, von der Nacht vergessene Pärchen, eichkätzchenfütternde Pensionisten – und hin und wieder auch Touristen.

Foto: Thomas Rottenberg

Mein bizarrstes Morgenerlebnis hier: An einem regennebelnasskaltwindigen Novembermorgen stolperte ich kurz nach der Toröffnung vor der Gloriette in eine gut 60-köpfige Touristengruppe aus Taiwan. Die Damen und Herren waren putzmunter und fotografierten wie besessen in den Nebel in Richtung des – unsichtbaren – Schlosses. Auf meinen fragenden Blick hin erklärte mir die Reiseführerin, dass der Tag um fünf Uhr mit City, Stephansdom und Ringstraße begonnen habe, man jetzt noch zum Schloss eilen werde, es heute noch nach Salzburg gehe – und am Abend bis Venedig weitergefahren werde. "Europe in 5 Days" eben.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber zurück zu Schönbrunn im Sommer. Da ist der Park am allerschönsten. Obwohl: Eigentlich ist er es im Spätwinter oder zu Frühlingsbeginn. Weil man hier dann Hammer- und Herzausreißer-Sonnenaufgänge erleben kann. Aber Sommer ist auch super. "This is our last day in Vienna. We ran here every morning. This place really is outstanding. We liked Vienna – but we love running here", erzählten die beiden Norweger, als ich sie fragte, ob ich sie beim Selfie-Machen fotografieren dürfe. Und auch wenn ich selbst genau nichts zu Schönheit und Charme dieses und anderer Orte beigetragen habe, machen mich solche Liebeserklärungen dann doch auch stolz.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch weil derartige Bekenntnisse helfen, selbst wieder hinzuschauen. Schönes als schön zu erkennen. Als etwas, was Wert hat – auch wenn es abgeschmackt, kitschig und 1000-mal besungen ist: Gutes Marketing alleine macht noch keine Mega-Site. Da muss schon auch Substanz da sein. Und statt mit dem fadisierten Routine-Blick mit offenen Augen durch den Tag und die Welt zu gehen (oder zu laufen), macht das Leben ohnehin spannender. Etwa wenn man bemerkt, dass nicht nur die Rollover-Gruppe und ein paar Touris das perfekte Morgenlicht hier zu schätzen wissen, sondern auch Profis – etwa das Wiener Model Ronni Wood ("ja, schreibt sich fast so wie Keith Richards") und seine Fotografin Magda.

Foto: Thomas Rottenberg

Wood war hier, um Sedcard-Fotos zu schießen. Wegen Licht, Blick, Setting und so weiter …

Anderen Leuten beim "echten" Fotografieren unaufgefordert mit der GoPro reinzufummeln ist an sich schon nicht cool. Aber bei professionellen oder kommerziellen Shootings ist es dann doppelt falsch: Ich frage – abgesehen von Events, bei denen die Fotografiertwerdenerlaubnis als Teil der AGB mit Anmeldung, Ticket oder sonstwie angenommen wird – prinzipiell, sobald jemand auch nur ansatzweise erkennbar sein könnte. Weil Agenturen mitunter (nachvollziehbar) humorbefreit reagieren, wenn ihre Models auf einem Set abgeschossen werden, frage ich manchmal zweimal. "Echt, kein Problem – mach nur!"

Foto: Thomas Rottenberg

Das gilt natürlich auch für jene Dame, die hier – soweit ich das überblicken kann – jeden Tag zur gleichen Zeit auf der gleichen Bank ihre stets gleiche Morgengymnastik macht. Auch sie, bilde ich mir jedenfalls ein, habe ich hier schon bei Schnee & Regen ihre Übungen mit Blick auf Schloss und Stadt machen gesehen. Und war und bin von ihrem Biss mehr als beeindruckt: Eines der Grundprobleme in der medialen (aber auch erzieherischen) Vermittlung des Respekts vor der Leistung und dem Engagement anderer ist, dass da ständig Ergebnisse und Resultate miteinander verglichen werden. Und es dann immer just die sind, die den eigenen Arsch nicht hochkriegen, Sport nur aus dem Fernsehen kennen und keine Ahnung haben, was alles an Wille und Energie nötig ist, auch "nur" einen Zehn-Kilometer-Lauf oder eine Gymnastikroutine abzuspulen, sich dann anmaßen, Leistungen zu relativieren. Oder zu belächeln.

Foto: Thomas Rottenberg

Darum bewundere ich jeden und jede, der oder die sich hier – oder sonst wo – bewegt. Und wünsche mir den sonst ja wirklich kitschigen Ami-Zugang, alles und jeden wie einen Weltmeister zu bejubeln, der sich nur ein Eitzerl anstrengt, auch hierzulande: Natürlich ist es pathetisch, wenn sich in New York am Tag nach dem Marathon ein Streifenwagen neben uns einbremst, zwei Polizisten in voller Montur herausspringen und mit den Wort: "You really are heroes, may we shake your hands?" einem Grüppchen Österreicher (mit Finishermedaillen und Austria-Badges) auf offener Straße gratulieren.

Aber: Hierzulande werden bei Laufevents Zielbereiche schon abgebaut, während ein Drittel der Teilnehmer noch unterwegs ist.

Irgendwo zwischen diesen Polen – eher näher bei den Amis – liegt das, was ich mir unter "Respekt & Anerkennung" für JedermannsportlerInnen vorstellen würde.

Foto: Thomas Rottenberg

Wobei das ein Nebenthema ist. Denn um halb sieben in der Früh sportelt niemand, weil er um Anerkennung oder bewundernde Blicke buhlt: Da ist jeder und jede für sich und mit sich selbst hier – und macht seine oder ihre Übungen, Läufe, Intervalle oder wasauchimmer nur mit Blick auf die einzige Benchmark, die zählt: Den Satz, den mir Reinhold Messner einmal mitgab, als ich ihm bei einem Interview sagte, ich käme mir doof vor, seine Frage nach meinen Bergerlebnissen zu beantworten, weil das im Vergleich nicht mal Pipifax sei, habe ich hier – und anderswo schon öfter strapaziert. "Extremsport", sagte Messner, "ist das, wo jemand einen Schritt weiter geht, als er es sich selbst gestern zugetraut hätte."

Foto: Thomas Rottenberg

Zurück nach Schönbrunn. Zum Frühsport. Wie und wieso es zur Schönbrunner Frühlaufgruppe gekommen ist, habe ich mich eigentlich nie gefragt. Wozu auch? Die Gruppe da. Donnerstag, 6:30 Uhr. Und dann rauf und runter bei der Gloriette. Muss man mehr wissen?

Man muss nicht. Aber man kann: "Entstanden ist das Ganze aus dem Frühlauftreff vom Walter Kraus", schrieb mir Jean-Marie Welbes, einer der Köpfe der Rollover-Schönbrunn-Gruppe (der winkende Herr im Bild). ""Aber da er das nur im Sommer anbietet, haben wir uns dann zusammengetan und den Treff einfach weitergeführt."

Foto: Thomas Rottenberg

Und weiter: "Über den Herbst, Winter und Frühjahr. Seitdem wir dann auch noch kreativ wurden, mit Themen-Donnerstagen, hat sich das dann immer mehr in den sozialen Medien herumgesprochen, sodass jetzt immer mehr Leute kommen. Meistens Freunde von Freunden usw. Mittlerweile läuft das Ganze ziemlich genau ein Jahr, ohne Pause. Es war immer jemand vor Ort, ob Regen oder Schnee, ob kalt oder warm. Auf jeden Fall hatten wir schon viel Spaß – und so soll es auch bleiben."

Ach ja. Auch für diesen Donnerstag hat die Rollover-Gruppe wieder ein Motto ausgegeben: "Weniger ist mehr". Allein um zu sehen, wie das interpretiert wird, zahlt sich das Mitlaufen aus.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Schönbrunn kann man am frühen Morgen auch genießen, ohne als Gruppe organisiert zu sein. Der Park ist ab 6:30 offen. Und auch wenn ich Hunde und Fahrräder sonst sehr schätze, finde ich es okay, dass diese beiden Themen im Schlosspark nichts zu suchen haben. (Einzig bei Kinderrädern fände ich ein bisserl Spielraum angebracht. Andere Geschichte.)

Das Aufwachen der Stadt hier zu erleben ist aber jedes Mal – egal wie – etwas ganz Besonderes. Ein Stück Luxus, das man für Geld nicht kaufen kann – eben weil es für alle da ist.

Man muss nur eines dafür tun: ein bisserl früher aufstehen. (Thomas Rottenberg, 6.7.2016)

Foto: Thomas Rottenberg