Ihre Stadtspaziergänge versteht Petra Unger als politische Bildung im öffentlichen Raum – und nicht als Beitrag zum Tourismus.

Foto: Regine Hendrich

"Fremd und Führer – das kann spätestens mit 1938 nicht mehr gedankenlos verwendet werden", sagt Unger.

Wien – Nur acht Prozent der nach Personen benannten Wiener Straßen erinnern an Frauen. In die Annalen der Stadtgeschichte sind fast ausschließlich die Namen bedeutender Männer eingegangen. "Frauen werden in der Stadtgeschichte nicht abgebildet", sagt Petra Unger. Bereits in der Ausbildung zur Stadtführerin sei ihr bewusst geworden, "dass hier eigentlich Herrschaftsgeschichte erzählt wird".

Mit der Konzession in der Tasche beschloss sie, eigene Routen durch die Stadt zu entwerfen. Die Ergebnisse ihrer historischen Spurensuche nach Frauenbiografien vermittelt sie seit zwanzig Jahren mit großem Erfolg zu Fuß – mit Spaziergängen quer durch Wien. Gehen bringt das Denken in Gang, sagt sie.

Eine Gruppe von 20 Personen bewegt sich durch Margareten, den fünften Wiener Gemeindebezirk. Sie macht in einem Innenhof in der Kettenbrückengasse halt. Dort befindet sich das Büro der Frauen- und Migrantinnenorganisation Lefö.

Petra Unger erzählt die Lebensgeschichte der Argentinierin Maria Cristina Boidi, die vor 30 Jahren den Verein Lefö in Wien gründete. Als engagierte Gewerkschafterin, Lehrerin und Universitätsprofessorin wurde Boidi während des Militärputsches in Argentinien 1975 verfolgt.

Sie war einige Jahre im Gefängnis, ehe sie in den 1980er-Jahren politisches Asyl in Österreich erhielt. In Wien setzte sich Boidi schon früh für die Rechte von Sexarbeiterinnen ein. Die Gruppe lauscht Ungers Exkurs zu Sexarbeit und Prostitutionsgesetz, Frauenhandel und dem ihrer Meinung nach mangelhaften Opferschutz in Österreich.

Brücke ins Jetzt

"Es geht darum, möglichst verschiedene Lebensentwürfe von Frauen zu repräsentieren", sagt Unger. Ihr Interesse gilt der Widersprüchlichkeit und dem Facettenreichtum von Frauenbiografien. Dabei nimmt sie auch immer wieder unterschiedliche Fraueneinrichtungen ins Visier.

Das können, wie im Falle von Lefö, Vereine von und für Migrantinnen sein oder auch die Lesbenberatung in der Rosa Lilla Villa. Aber auch die Barmherzigen Schwestern mit ihrem Kloster im sechsten Bezirk. Oder eine Moschee, etwa jene im 15. Bezirk, wo Unger im Rahmen der Stadtspaziergänge ein Dialoggespräch über Frauen im Islam führt. Es sind tagesaktuelle, in jedem Fall hochpolitische Themen, die bei den Frauenspaziergängen verhandelt werden.

Die Gruppe geht weiter in die Grüngasse und kommt zu einer Mädchenschutzstation aus dem 19. Jahrhundert. Hier unterstützten bürgerliche Frauen mittellose junge Mädchen vom Land und stellten ihnen ein Bett und eine warme Mahlzeit bereit. An der letzten Wohnadresse der Architektin und kommunistischen Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky bleiben die Stadtspaziergängerinnen erneut stehen. Im Gegensatz zu so vielen anderen Frauen war Schütte-Lihotzky nach ihrem Tod für mehrere Orte in der Stadt namensgebend.

Anders bei Grete Grau. Sie war eine der ersten Anwältinnen Wiens, promovierte 1928. Heute erinnert sich kaum jemand an sie. 1936 eröffnete sie ihre Anwaltskanzlei in der Margaretenstraße. Mit der Machtergreifung Hitlers verlor sie das Recht, ihren Beruf auszuüben. Als Jüdin verfolgt, konnte sie sich in die USA retten. In der Gruppe beginnt eine Diskussion über Erinnerungskultur und fehlende Gedenktafeln.

Petra Unger betreibt Frauengeschichtsforschung. Das ist detektivische Arbeit. Ihre deutschen Kolleginnen, die feministische Stadtvermittlung betreiben, nennen sich deshalb Miss Marples Schwestern. Als Unger in den 1990er-Jahren damit in Wien begann, gab es dazu wenig Literatur. Und kaum finanzielle Unterstützung. Nur die Bezirke gaben immer wieder Recherchen in Auftrag, manche regelmäßig.

Weder fremd noch Führer

So konnte Unger allmählich 50 verschiedene Routen durch die Stadt entwickeln. Dank der Finanzierung durch die jeweiligen Bezirke sind heute fast alle kostenfrei. Auch Spaziergänge in englischer und spanischer Sprache gibt es.

Ihre Stadtspaziergänge versteht Unger aber nicht als touristische Touren, sondern als politische Bildung im öffentlichen Raum. Es verwundert nicht, dass sie mit der Berufsbezeichnung "Fremdenführerin" Schwierigkeiten hat.

"Fremd und Führer – das kann spätestens mit 1938 nicht mehr gedankenlos verwendet werden." Unger sagt, sie habe sich immer als Kunst- und Kulturvermittlerin verstanden. "Nachdem jetzt auch der Begriff Kultur rassistisch aufgeladen ist, nenne ich mich einfach Stadtvermittlerin – ich habe noch keinen neuen Namen gefunden."

Aus der jahrelangen intensiven Auseinandersetzung mit Frauenstadtgeschichte und feministischer Forschung sind bisher drei Bücher hervorgegangen. Lange Zeit dachte Unger, dass sie besser Vorträge halten oder Workshops machen sollte, als bei Wind und Regen durch die Stadt zu gehen.

"Aber dann habe ich bemerkt, dass diese Form der Vermittlung sehr geschätzt wird." Das Gehen erlaubt Pausen, Gespräche und Reflexion. Wenn sie mit ihrer Gruppe von einem Punkt zum nächsten geht, kommen die Leute ins Gespräch – oder haben Zeit nachzudenken.

Dass durch die Frauenspaziergänge neue Bezüge zur Stadt hergestellt werden, bestätigt auch eine der Teilnehmerinnen: "Es ist spannend, vor Ort diese vergessenen Geschichten zu hören und einen neuen Blick auf die Stadt einzunehmen", sagt die junge Frau.

Petra Unger erinnert sich an ihr feministisches Grundstudium am Rosa-Mayreder-Kolleg, wo sie mit der Pionierin der Frauengeschichtsforschung, Gerda Lerner, in Kontakt kam. Besonders beeindruckte sie Lerners Forderung, dass jede Frau mindestens ein Jahr lang Frauengeschichte studieren solle – egal, was sie sonst mache. Lerner schrieb: "Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat." Auch die Frauenspaziergänge können Veränderungen auslösen, ist Unger überzeugt.

Gedenktafeln initiiert

Verändert hat sich auch die Stadt. In den letzten 20 Jahren habe sich in Wien viel getan, was die Sichtbarkeit von Frauengeschichte betrifft, sagt Unger. Das hat auch einiges mit ihrer politischen Arbeit zu tun. Bei jedem Spaziergang macht Unger darauf aufmerksam, was Straßenbenennungen für das kollektive Erinnern im öffentlichen Raum bedeuten.

Mehrere Gedenktafeln sind auf ihre Initiative hin entstanden, etwa für die Literatin Lina Loos auf der Mariahilfer Straße. So seien Versäumnisse nachgeholt worden, sagt sie. Wie auch bei den neuen Stadtvierteln in der Seestadt Aspern, die ausschließlich nach Frauen benannt sind.

"Hier gibt es ein neues Bewusstsein. Deshalb schreibe ich meine Dokumentationen so ausführlich – auch als Grundlage für eine Benennung", sagt Unger. Damit niemand mehr behaupten könne, es hätte keine bedeutenden Frauen in der Stadtgeschichte gegeben. (Christine Tragler, 3.7.2016)