Juncker und Tusk stellen sich gegen einen Binnenmarktzugang "à la carte".

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Sein Wechsel vom Job eines Spitzenmanagers zu dem des Regierungschefs beim EU-Gipfel sei für ihn kein "Kulturschock" gewesen, sagte Christian Kern am Mittwoch nach dem Abschluss des zweitägigen Treffens des Europäischen Rats in Brüssel. Es habe "eine vernünftige Diskussion auf hohem Niveau" gegeben, fuhr der Bundeskanzler fort, sehr sachlich. Für ihn war das der erste EU-Gipfel seit Amtsantritt.

Nach dem angekündigten Ausscheiden Großbritanniens aus der Gemeinschaft gehe es jetzt darum, dass die EU sich sehr konkret um jene Probleme und Ängste kümmere, die die Bürger am meisten bewegten. Sicherheit und Migration seien dabei ein entscheidender Punkt, Wirtschaftsentwicklung, Jobs und Arbeit der andere, so Kern. Diesbezüglich müssten nun rasch und gemeinsam "pragmatische konkrete Lösungen" gefunden werden – Stichwort Hilfe vor Ort in Afrika, Sicherung der Außengrenzen –, so Kern. Darauf habe man sich im Kreis von 27 Regierungschefs verständigt.

Zum ersten Mal seit 43 Jahren nahm kein britischer Regierungschef an einem Treffen auf der höchsten politischen Ebene Europas teil. David Cameron hatte sich bereits in der Nacht davor von seinen Kollegen nach einem "wehmütigen, ja traurigen" Arbeitsessen verabschiedet. Er betonte, dass er auf eine künftig möglichst enge Zusammenarbeit seines Landes mit der EU hoffe. "Ich habe mich für das Referendum entschuldigt", sagte Cameron, auch er habe diesen Ausgang nicht gewollt. Dennoch sei es "richtig gewesen, ein Referendum zu machen", so der Nochpremier nach seinem letzten Gipfel.

Kommen und Gehen von Regierungschefs, das ist in einer Union von 28 Staaten sehr normal. Nicht sehr inspiriert schien die Runde, wie die 27 nun durchstarten wollen, um die weitere Erosion des Gemeinsamen zu verhindern.

Poker um Britenverhandlung

Mitte September wird es einen EU-27-Sondergipfel in Bratislava geben. Man hofft, dass bis dahin in London bereits ein neuer Premier regiert, und auch offiziell den Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags stellt. Erst dann will die Union die schwierigen Verhandlungen zum Austritt eröffnen. Cameron meinte am Mittwoch im Unterhaus in London, es solle schon vorher "Gespräche" geben. Die EU-Seite braucht dafür aber abgestimmte "Leitlinien", eine Position. Es muss vor allem erst geklärt werden, welchen Zugang die Briten in Zukunft zum Binnenmarkt haben.

Kommission und Rat zanken darüber, wer die Verhandlungen mit London federführend leitet. An die Möglichkeit, dass die britische Regierung den EU-Austritt wieder absagt, glauben die EU-Chefs nicht. Sie sehe diesbezüglich "keinen Weg", sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Allerdings: US-Außenminister John Kerry erklärte nach einem Besuch in London, es gebe dazu sogar "mehrere Möglichkeiten".

Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker betonten, dass es sicher "keinen Binnenmarkt à la carte" geben werde. Die Briten würden nur dann vollen Zugang zum Binnenmarkt haben, wenn sie neben der Freiheit für Waren, Kapital und Dienstleistungen auch jene für Personen akzeptierten. Mit der Rosinenpickerei sei es vorbei, betonte Merkel. Sie spricht sich aber auch dagegen aus, jetzt große "Visionen" für mehr Integration der EU-27 zu entwickeln. Es wird keine EU-Vertragsreform geben.

Was – auch ohne Briten – bleibt, ist Streit über die Handelspolitik. Juncker trug dem Rat vor, dass die Kommission das Freihandels- und Investitionsabkommen mit Kanada (Ceta) juristisch als "nicht gemischtes Abkommen" bewerte. Es würden darüber also nur Ministerrat und EU-Parlament abstimmen, nicht nationale Parlamente. Kern, Merkel, aber auch Frankreich und Luxemburg lehnen diese Sichtweise ab, können die Entscheidung aber nur verhindern, wenn alle EU-Partner mitmachen.

Darauf angesprochen, ob das nicht undemokratisch sei, platzte Juncker bei der Pressekonferenz der Kragen: "Hören Sie auf mit diesem österreichischen Klamauk." (Thomas Mayer aus Brüssel, 29.6.2016)