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Kälteexperiment im KZ Dachau: NS-Mediziner nutzten die Zwangslage im KZ skrupellos aus. Über die Opfer weiß man bis heute nur wenig.

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Medizinhistoriker Weindling kritisiert, dass viele überlebende Opfer der Menschenversuche für ihr Leid nie entschädigt wurden.

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Paul Weindling, "Victims and Survivors of Nazi Human Experiments: Science and Suffering in the Holocaust". € 24,30 / 336 Seiten. Bloomsbury, London 2015

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Wien – Die Aufnahme wurde vermutlich im September 1942 gemacht und wurde etwas mehr als vier Jahre später zum wichtigsten Bilddokument für NS-Menschenversuche. Das Foto zeigt SS-Sturmbannführer Sigmund Rascher und Professor Ernst Holzlöhner bei der Untersuchung einer unbekannten Person in einer mit Eiswasser gefüllten Wanne im KZ Dachau. Der Beisitzer mit dem Thermometer in der Hand hieß Erich Finke.

Über den Zustand des unbekannten Opfers kann man nur Vermutungen anstellen: Stellen die NS-Mediziner den Tod der Versuchsperson fest? Messen sie die Körperfunktionen? Hat die Person womöglich überlebt? Unmöglich ist es nicht: Vermutlich sind rund achtzig Versuchspersonen bei den Kälteversuchen gestorben, doch immerhin 133 dürften überlebt haben. Viele der Opfer waren polnische Priester.

Wenig Wissen über die Opfer

"Über das Schicksal der Opfer weiß man bis heute sehr viel weniger als über die Täter", sagt der britische Medizinhistoriker Paul Weindling. Das gilt auch für die Personen auf dem Foto: Noch ehe der Nürnberger Ärzteprozess Ende 1946 begann, waren die drei abgebildeten Nationalsozialisten bereits tot. Rascher wurde von der SS exekutiert, Finke starb in einem Militärspital, Holzlöhner beging im Juni 1945 Selbstmord.

Weindling, der an der Oxford Brookes University forscht, stellte die ikonische Aufnahme und ihre Analyse an den Beginn seines jüngsten Buchs Victims and Survivors of Nazi Human Experiments, das erstmals auch mit konkreten Opferzahlen der NS-Humanexperimente aufwartet. Diese Recherchen belegen unter anderem, dass neben Auschwitz und Dachau im KZ Mauthausen besonders viele Opfer zu beklagen waren. Weindling schätzt, dass mehr als 27.000 Personen betroffen waren.

Dass diese Recherchen noch längst nicht abgeschlossen sind, hat mit rechtlichen Fragen zu tun, erklärt der Medizinhistoriker, dessen Eltern vor den Nationalsozialisten aus Wien nach England flüchteten. Da es um die unfreiwilligen Teilnehmer medizinischer Experimente geht, gelte nach wie vor das Prinzip der Vertraulichkeit. Das mache es nicht eben leichter, mehr über die Opfer und die Überlebenden, ihre Erfahrungen und ihre weiteren Lebenswege herauszufinden.

"Hart formuliert stellt der Datenschutz in dem Fall eine Art von Täterschutz dar", sagt Weindling, der vor allem kritisiert, dass man nach 1945 viele der überlebenden Opfer der Menschenversuche "übersehen" und nie für das erlittene psychische und physische Leid entschädigt hat. "Heute ist es natürlich zu spät."

Einzigartige Experimente

Spät, aber nicht zu spät ist es, die immer noch existierenden Lücken dieses einzigartigen Kapitels der Wissenschaftsgeschichte zu schließen. "Zwar gab es Humanexperimente ohne Einwilligung der Versuchspersonen auch schon vor dem Nationalsozialismus und auch noch danach", sagt Weindling. "Doch die Versuche in den Konzentrationslagern waren ohne Zweifel am extremsten und in ihrer Intensität unvergleichbar."

Die Initiative dazu ging meistens von den Medizinern selbst aus, die keine Skrupel hatten, das "verfügbare Menschenmaterial" und die "optimalen Versuchsbedingungen" für Experimente zu missbrauchen, die sonst unmöglich gewesen wären: Neben den Kälteversuchen wurde etwa getestet, wie viel Meerwasser Menschen überleben, andere Versuchspersonen wurden mit Malaria, Fleckfieber oder Milzbrand infiziert.

Anders als in den meisten bisherigen Darstellungen geht es Weindling aber nicht um Tätergeschichte, auch wenn in dem Zusammenhang viele Fragen offen sind. So etwa sind die Involvierungen der SS-Ärztlichen Akademie in Graz längst nicht ausreichend erforscht.

Der Medizinhistoriker rekonstruiert vor allem die Erfahrungen von Opfern. Und trotz der unmenschlichen Bedingungen in den Konzentrationslagern wurde auch Widerstand geleistet. Bekanntestes, aber nicht einziges Beispiel ist die Gegenwehr polnischer Gefangener in Ravensbrück gegen die sogenannten Sulfonamidversuche.

Wurden die Opfer der Menschenversuche von den NS-Medizinern zu namenlosem Versuchmaterial degradiert, so gibt ihnen Paul Weindling mit seiner Arbeit wieder den Status von Subjekten und Akteuren zurück. (Klaus Taschwer, 30.6.2016)