Johnsons Dilemma: Der zurückgetretene Premier Cameron legt die politische Verantwortung für den Brexit und dessen Folgen auf die Schultern der Austrittsbefürworter.

Foto: AFP/BEN STANSALL

Als Boris Johnson am Freitagmorgen vor die Kameras trat, sah man ihm den monumentalen politischen Erfolg nicht an, den er und das Lager derer, die für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union eingetreten waren, errungen hatten. Um in der Diktion der derzeit stattfindenden Europameisterschaft zu sprechen: So sehen keine Sieger aus. Ein Leser des "Guardian" fasste das Dilemma Johnsons und seiner Mitstreiter folgerichtig zusammen: Durch seinen Rücktritt legte David Cameron die weitere Vorgehensweise und damit die politische Verantwortung für den Brexit und dessen Folgen auf die Schultern der Austrittsbefürworter.

Kein Mandat für Grundsatzentscheidungen

Das fundamentale Problem ist, dass sich aus dem Ausgang des Referendums kein Mandat für irgendeine Politik, abgesehen vom Austritt, ableiten lässt. Wenig hörte man von konkreten Zukunftsvorstellungen abseits von folklorischer Beschwörung der zukünftigen Freiheit. Besser würde es werden, wie genau, blieb oft unbeantwortet. Die Austrittsbefürworter wollten die Kontrolle zurück. Was sie damit umsetzen wollen, wurde verschwiegen.

Das Land steht nun vor Grundsatzentscheidungen in seinem weiteren Verhältnis zur Europäischen Union. Will man etwa weiterhin Zugang zum Binnenmarkt, so Außenminister Philip Hammond, wird man weiterhin die Personenfreizügigkeit akzeptieren müssen. Laut Johnson kann man beides, Binnenmarkt und Migrationsbeschränkung, haben. Zerrissen zwischen zwei einander ausschließenden Zielen kann jede zukünftige Regierung nur enttäuschen. Der Abgang vom Binnenmarkt könnte erhebliche Folgen für die britische Wirtschaft haben, die in der einen oder anderen Form auch jene betreffen werden, die im Norden und den Midlands in der großen Mehrheit für den Austritt gestimmt haben. Die weitere Fortführung der Personenfreizügigkeit wäre eine Kampfansage an jene Wählerschaft, deren Hauptanliegen die Beschränkung der Immigration war.

Politische Planlosigkeit

Diese Fragen offenbaren das Dilemma jener, die im Ergebnis des Referendums kein Mandat für die eine oder andere Vorgehensweise finden werden. Damit lässt sich auch das abwartende Verhalten der "Leave"-Seite erklären, der der Austritt vor dem Referendum nicht schnell genug gehen konnte, die jetzt aber auf September oder gar nächstes Jahr vertröstet. Die britische Weigerung, Artikel 50 zu aktivieren, ist nur zum Teil politisches Taktieren und Warten auf opportunere Zeiten. Sie zeigt zu großen Teilen auch die politische Planlosigkeit derer, die für den Austritt eingetreten sind.

Ein zerrissenes Land

Während man sich in London uneinig ist, tun sich im übrigen Land Gräben auf, die für die Parteien nur schwer zu bewältigen sein werden. Labour ist zerrissen zwischen der Kernwählerschaft im Norden und den Midlands, die vom wirtschaftlichen Aufschwung des Landes kaum profitiert hat und die der eher europakritische Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn ansprechen könnte, und der jüngeren Wählerschaft in London und den anderen Städten, die für den Verbleib gestimmt hat.

Ungeklärt ist auch, wie mit strukturschwachen Regionen wie Wales und Cornwall umgegangen werden soll. Beide Regionen sind Nettoempfänger von EU-Geldern und haben in der Mehrheit für den Austritt gestimmt. Beiden wurde von den Austrittsbefürwortern versprochen, dass sie finanziell keinen Nachteil erleiden werden. Der Haken an der Sache ist, dass diese kein politisches Mandat hatten, um derartige Versprechen abzugeben. Ob eine konservative Regierung, die auch ansonsten eher für die Absicherung der konservativen Wahlbezirke im Süden sorgt, derartige Investitionen tätigen wird, ist fraglich. Ungeklärt ist auch die Situation in Schottland und Nordirland, die sich von den Engländern nicht aus der EU wählen lassen wollen. Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, kündigte bereits an zu prüfen, ob das schottische Parlament den Brexit blockieren könnte, und behielt sich vor, notfalls ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten.

Deshalb Neuwahlen

Diese monumentalen Fragen an die britische Politik können nicht auf dem Parteitag der Konservativen im Herbst – bis 9. September soll ein neuer Premierminister gefunden sein – geklärt werden. Es braucht Neuwahlen, damit die Bürger die Zukunft ihres Landes tatsächlich bestimmen können. (Dominik Steinmeir, 28.6.2016)