An diesem Wochenende fanden gleichzeitig in Wien und Budapest Kongresse traditioneller linker Parteien statt. Ein zeitlicher Zufall, der aber wegen der Kontraste symbolträchtig wirkt. Beim SPÖ-Parteitag in Wien erhielt der neue Parteichef Christian Kern 97 Prozent der Delegiertenstimmen, und seine rhetorisch und inhaltlich eindrucksvolle Rede verlieh der demoralisierten Partei nach dem verheerenden Präsidentenwahlkampf ein dringend gebrauchtes Gefühl des neuen Aufschwungs. Zu Recht wiesen allerdings die Kommentatoren darauf hin, dass es im Land keine linke Mehrheit gibt und deshalb die Umsetzung der Ideen nicht nur von der angestrebten Meinungsführerschaft abhängt.

Der Budapester Kongress der MSZP, der zum Teil aus Reformkommunisten zu Sozialisten gewandelten Delegierten, bestätigt den Spruch Bruno Kreiskys: "Es gibt nichts Beängstigenderes als die lange Herrschaft einer Partei, die in Routine und Administration erstarrt." Obwohl diese Partei seit den Wahltriumphen von Viktor Orbáns Fidesz sogar von der rechtsextremen Jobbik-Partei als zweitstärkste Opposition überholt wurde, tobt in den Führungsgremien seit eh und je ein erbitterter Machtkampf zwischen unfähigen Männern der dritten Garnitur. So wurde jetzt nach zwei Wahlgängen ein erst seit 2014 amtierender farbloser Apparatschik von einem in mehrere Prozesse verstrickten korruptionsverdächtigten Parteiveteranen abgelöst. Seine Ankündigung, 2018 die nach allen Umfragen turmhoch führende Orbán-Partei zu besiegen, liefert höchstens Stoff für Witzblätter. Ob an der Macht oder in Opposition, wird die MSZP von einer durch und durch korrupten Clique beherrscht und deshalb ruiniert.

Der Niedergang der sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien und der Anstieg der extremen Rechten sind nicht nur in den postkommunistischen Staaten mit der Entfremdung der Industriearbeiter und der ärmsten Bürger verbunden. Die jüngste schwere Niederlage der Partei des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi bei den Kommunalwahlen und ähnliche Tendenzen in Spanien und Griechenland zeigen immer wieder, dass neue extrem linke Gruppen mit attraktiven Kandidaten auch eine für die Sozialdemokraten gefährliche linke Alternative bedeuten. Nach der stolzen Kampfansage Bundeskanzler Kerns, "das sozialdemokratische Jahrhundert hat gerade erst begonnen", reagierte ein Mitarbeiter der liberalen Wochenzeitung Die Zeit sarkastisch: "Wenn die Genossen nicht aufpassen, könnte es ein sozialdemokratisches Jahrhundert ohne Sozialdemokraten sein."

Vor fast 25 Jahren prophezeite bekanntlich der Soziologe Ralf Dahrendorf – noch vor den Erfolgen von Tony Blairs New Labour und der SPD mit Schröder – das Ende der Sozialdemokratie. Auch das Beispiel Österreichs mit der in der europäischen Geschichte einzigartigen Serie von fünf Wahlsiegen Bruno Kreiskys lässt die Bedeutung der Persönlichkeit an der Spitze erkennen. Eine starke Sozialdemokratie ist stets die Säule der liberalen Demokratie gewesen. Christian Kern ist deshalb eine Chance nicht nur für die SPÖ, sondern auch für die österreichische Konsensdemokratie – nicht mehr, aber auch nicht weniger. (Paul Lendvai, 27.6.2016)