Sie sei, schrieb Sandrina Illes "nicht begeistert". Und das, ergänzte meine Trainerin, käme für mich wohl nicht überraschend: "Dein Laufstart war viel zu heftig", rügte sie mich. "Gleich eine knappe Stunde (wenngleich langsames) Laufen? Das ist VIEL zu VIEL".

Ja eh. Weiß ich. Nur: Es ging nicht anders. Und ich war eh brav. Hatte die Handbremse angezogen. Lief ohne Puls- und Pacemessung. Hatte eine Playlist, die so aufputschend war wie Grießbrei und Himbeersaft. Außerdem hatte ich mit für eine Region mit sehr eingeschränkter Varianten- oder Verlängerungsvielfalt entschieden, hörte ständig in mich rein – und war fest entschlossen, schon beim ersten Stechen sofort aufzuhören.

Aber: Ich lief. Endlich. Wieder. Trotz aller Skepsis, Scheu und Vorsicht. Trotz des Gefühls, wie der erste Mensch unterwegs zu sein. Und es war vor allem eines: Schön. Unpackbar schön.

Foto: Thomas Rottenberg

Keine Frage: Ich bin ein Junkie. Ein Sucht-Typ. Was mir gefällt, davon will ich mehr. Immer schon. Drageekeksisyndrom Galore. Deshalb – auch wenn das nach einem anderen Thema klingt – haben meine Drogen- und Exzess-Experimente schon als Teenager klare Konsequenzen gehabt: Was keinen Spaß macht, muss ich kein zweites Mal haben. Wozu auch?

Problematisch sind und waren die so richtig positiven Erlebnisse: Ich kenne mich gut. Was Spaß macht, will ich wieder haben. Und wieder. Mehr, öfter und intensiver. Selbstdiziplinierung durch Reduktion oder vernünftige Einteilung? Kann ich nicht. Also kam vieles, womit meine Freunde experimentierten und manche sogar bis heute Spaß haben, auf den Index. Ohne wenn und aber. Ich weiß, um es bei legalen Vergnügungen zu belassen, wieso ich mir nie ein wirklich schnelles Motorrad gekauft habe und Basejumpen nie ausprobierte: Ich wäre heute nicht mehr am Leben. Das ist keine Koketterie: Ich kenne mich.

Was das mit Laufen zu tun hat? Viel. Sehr viel. Denn natürlich substituiere ich durch das Laufen Grenzerfahrungen, auf die ich anderweitig verzichte. Und natürlich gibt es auch da das Balancespiel zwischen Lust und Vernunft: Die Dosis macht das Gift. Und wenn Entzug – aus welchem Grund auch immer – weh tut, ist das entweder der Beweis dafür, dass die Dosis zu hoch war – oder aber dass eine Verletzung nicht mehr so schlimm ist, wie zu Beginn der Karenzzeit. Welche der beiden Lesarten stimmt, weiß man halt immer erst im Nachhinein. Auch deshalb ist der Blitzstart zurück ins volle Renngeschehen nach einer Pause nicht so schlau.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich bin jetzt über Monate nicht gelaufen. Das Warum habe ich vergangene Woche hier ausgeführt. Anfangs ging es mir nicht ab. Keine Sekunde. Aber in den letzten Wochen war es tough: Rund um dich rennt alles – und du sitzt auf der Parkbank und schreibst über Laufbücher. Eh nett. Trotzdem auf Dauer nicht lustig.

Als mir der Sportmediziner Robert Fritz dann angesichts meiner MR-Befunde – mit Vorbehalt – sagte, er sähe Licht am Ende des Tunnels, ich möge aber doch auf das warten, was sein auf meine Wehwehs spezialisierter Kollege Reinhard Schmidt sagen würde, war das so, als nähme man mir Handschellen ab.

Und als Schmidt dann erklärte, ich dürfe "alles tun, was nicht weh tut", solle aber nicht übers Ziel schießen, es "flach, eben, locker und langsam" angehen und der Weg zurück werde auf alle Fälle dauern, war dennoch klar: Morgen versuche ich es. Und sei es in einem Hagelsturm oder durch meterhohe Schneewächten.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich hagelte es nicht. Im Gegenteil. Als ich um halb sieben Uhr das Haus verließ war es hübsch warm. "Langsam, locker, ehrgeizlos", wiederholte ich mantraartig. "Nur ein paar Runden. Und wenn es weh tut: Sofort aufhören." Ich war nervös. Wie der pickelige Klassen-Nerd, der am Weg zum Date mit dem hübschesten Mädchen der Schule nicht wirklich sicher sein kann, ob er nicht gerade in eine fiese Falle tappt. Und neben einer Mega-Blamage vor den sicher gleich auftauchenden, hohnlachenden coolen Kids auch eine mentale Watsche für ihn bereit steht. Eine von der sich so rasch nicht erholen wird.

Foto: Thomas Rottenberg

Nur: Da kam nix. Nix Böses jedenfalls. Die ersten Schritte sind unsicher. Zögerlich. In-mich-reinhören zur Potenz. Doch: Es geht. Ungelenk. Abgehackt. Ein bissi krampfig. Das Gegenteil von rund. Aber: Es ist Laufen. Und dann, als ich am Sisi-Denkmal vorbeikomme, schicke ich ein Stoß- und Dankgebet an die tragische Kaiserin, Schönbrunns erste Joggerin – und daher inoffizielle Schirmherrin aller Läuferinnen und Läufer: Ich. Kann. Wieder. Laufen.

Egal wie langsam. Egal wie weit weg von dem, wo ich zu dieser Zeit des Jahres sein wollte: Ich laufe. Du läufst, er, sie und – vor allem – es läuft.

Es ist wie nach einer langen Zeit ohne Sex. Dass er fehlt, weiß man natürlich, wenn man keinen hat. Aber erst, wenn es wieder passiert, spürt, erkennt, fühlt, sieht, riecht und schmeckt man, was da alles gefehlt hat. Wie wichtig das alles ist. Was da plötzlich wieder alles da ist. Was alles von einem abfällt – und nur einem großen Staunen Platz schafft: Wie konnte man es bloß so lange ohne aushalten?

Foto: Thomas Rottenberg

Themenwechsel. Vom Sex zum Setting: Der Laufzeit. Nicht "wie lange", sondern "wann". Ich trainiere lieber in der Früh. Vor allem im Sommer: Die Luft ist noch frischer. Das ist das Eine. Der Tag läuft danach anders. Das ist das Andere. Aber vor allem: Die Leute sind anders drauf. Ja eh: In der U-Bahn, am Weg zur Arbeit sind sie grantig. Unausgeschlafen. In Eile. Genervt. Aber beim Sport nicht. Im Gegenteil.

Natürlich kann man auch nach der Arbeit trainieren. Aber das ist dann halt was Anderes. Und der Reiz des "davor" hängt auch ein kleines bisserl damit zusammen, zu einem Club zu gehören.

Foto: Thomas Rottenberg

Und auch wenn dieser "Earlybird"-Club derzeit rasant größer wird, ist er immer noch klein und exklusiv genug, dass man einander verschwörerisch zuzwinkern kann: Der Rest der Welt, die, die jetzt noch schalfen, tippen sich zwar an die Stirn, wenn sie Bilder und Geschichten vorgesetzt bekommen – aber ein bisserl neidig sind sie schon. Glauben wir. Reden wir uns ein. Und bestätigen es einander, wenn wir in der Früh aneinander vorbei laufen oder uns und einander bei sonst einem Training in der Früh begegnen. (Etwa – hier im Bild – Benjamin Rauschers Wake Up & Work Out"-Gruppe. Über die bin ich ganz zufällig gestolpert.)

Foto: Thomas Rottenberg

48 langsame Minuten mit Foto- und Plauderpausen in Burg- und Volksgarten. Schmerzfrei. Vernünftig – zumindest aus meiner Sicht. Natürlich spürte ich, dass meine Beine links und rechts alles andere als auf dem gleichen Leistungslevel sind. Eh klar. Natürlich war ich meilenweit von dem weg, was für mich vor einem halben Jahr noch "normal" war. Natürlich muss ich, bevor ich im entferntesten an Spielereien, harte Einheiten oder gar Wettkämpfe denke, zuerst einmal wieder den Weg zurück finden. Zur und in die Grundlage. Ins Einmaleins. In den Flow.

Aber das Angst- und Schlüsselwort hatte anders gelautet: "Schmerz" nämlich. Schmerz, der zuletzt sogar aufgeblitzt war, wenn ich abrupt vom Gehen ins Laufen gewechselt war – etwa weil ich den Bus nicht versäumen wollte. Schmerz, der jetzt, bei der kontrollierten, bewussten Bewegung schlicht und einfach nicht da war.

Foto: Thomas Rottenberg

Nicht beim ersten Lauf im Burggarten. Und auch nicht beim zweiten, zwei Tage später, in Schönbrunn. Ebenfalls früh. Ebenfalls schon heiß. Ebenfalls langsam und locker. Und ebenfalls von einem Glücksgefühl begleitet, das ich davor so nicht gekannt hatte. Ja eh: Ersten, weil es überhaupt und prinzipiell wieder geht – und das für mich alles andere als sicher war …

Foto: Thomas Rottenberg

… andererseits und zweitens aber auch, weil sich in den letzten drei Monaten Perspektiven, Ansprüche und Zugänge dadurch gewaltig verschoben haben. Vom Druck zum Fluss. Zum Lernen. Zum An- und Aufnehmen.

Weil es um mehr geht. Nicht bloß um Bewegung, Muskeln, Kraft, Sauerstoffaufnahme, Technik und medizinische, physiologische oder physische Abläufe und Routinen. Das ist die Oberfläche.

Darunter liegt das, was man daraus macht. Was es bedeutet. Es – und alles andere. Deshalb war dieser Neuanfang wichtig und – im Moment – richtig. Und ändert dennoch nichts daran, dass meine Trainerin vollkommen recht hat, wenn sie mir in diese Freude hinein den mahnend-warnenden Rüffel erteilt: Dieser Start war viel zu heftig.

Aber: Es ging einfach nicht anders. Und es war gut so. (Thomas Rottenberg, 29.6.2016)

Foto: Thomas Rottenberg