Der Wortführer des Brexit-Lagers, Boris Johnson, kündigt an, dass Großbritannien nach dem Austritt weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt haben werde.

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Rede vor Börsenöffnung.

Brüssel/London – In seiner ersten Rede nach dem Brexit-Referendum hat der britische Schatzkanzler George Osborne Montagfrüh zu kalmieren versucht. "Wir haben uns auf das Unerwartete vorbereitet, und wir sind gerüstet für alles, was noch kommt", sagte Osborne. Großbritannien sei bereit, den Austritt mit der EU zu verhandeln. Er stehe seit Freitag in ständigem Austausch mit der Bank von England, einsatzbereite Notfallpläne seien vorhanden.

Anhaltende Turbulenzen

Osborne rechnet mit anhaltenden Turbulenzen an den Finanzmärkten, Großbritannien könne die schwierige Herausforderung aber meistern. "Unsere Wirtschaft ist so stark wie nötig, um sich der Herausforderung zu stellen, die auf unser Land jetzt zukommt." Er sei außerdem mit den Verantwortlichen der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der britischen Institute in Kontakt. "Ich will nicht, dass Großbritannien der EU den Rücken zukehrt", erklärte der Finanz- und Wirtschaftsminister. Das Verfahren nach Artikel 50 will er erst auslösen, wenn die Beziehungen zur EU geklärt sind. Zuerst solle Großbritannien selber klar sehen, wie es mit der EU weitergehen soll.

Osborne will außerdem noch diese Woche verkünden, ob er sich um die Nachfolge David Camerons als Parteichef der Konservativen bewirbt. Derzeit sei er jedenfalls vollkommen auf seine Aufgaben als Minister konzentriert.

Das britische Pfund war am Freitag nach Bekanntwerden der ersten Abstimmungsergebnisse innerhalb weniger Stunden eingebrochen und zeitweise auf den tiefsten Stand seit 31 Jahren gefallen. Am Montag gab das Pfund erneut um mehr als zwei Prozent auf 1,3350 Dollar nach.

Beratungen vor EU-Gipfel

Unmittelbar vor dem EU-Gipfel beraten in London Regierung und Parlament über die Umsetzung der Brexit-Entscheidung. Mit Spannung wird erwartet, wann Großbritannien seinen Antrag auf Austritt aus der EU stellen will. Premier Cameron hat seinen Rücktritt bis Oktober angekündigt und erklärt, sein Nachfolger solle die Verhandlungen übernehmen.

Das geht dem Europaparlament und den Außenministern der sechs Gründungsstaaten der europäischen Gemeinschaft aber nicht schnell genug. Sie wollen rasche Gespräche über den Ausstieg, um weitere Turbulenzen zu vermeiden. Allerdings nahmen EU-Spitzendiplomaten am Sonntagabend wieder etwas Druck von Cameron: Es gebe Verständnis dafür, dass Cameron nicht schon beim Gipfel am Dienstag das Austrittsverfahren förmlich auslösen werde.

Johnson: "Keine Eile"

Indes kündigt der Wortführer des Brexit-Lagers und innerparteiliche Widersacher Camerons, Boris Johnson, an, dass Großbritannien nach dem Austritt weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt haben werde. Auch die drei Millionen Unionsbürger im Land würden ihre Rechte in vollem Umfang behalten, meinte Johnson in einem am Sonntag veröffentlichten Zeitungsbeitrag. Er bekräftigte, dass es "keine Eile" in Bezug auf die Austrittsverhandlungen gebe.

"Es wird weiterhin freien Handel und Zugang zum Binnenmarkt geben", schrieb Johnson in seiner Kolumne für den "Telegraph". Die in Großbritannien lebenden EU-Bürger würden ihre Rechte in vollem Umfang geschützt sehen, versicherte der Anwärter auf die Nachfolge Camerons.

Schulz: Kein Verständnis für Spielchen

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnte die Briten davor, den Austritt hinauszuzögern. "Wir erwarten, dass die britische Regierung jetzt liefert", sagte Schulz den "Ruhr Nachrichten" vom Montag. Beim EU-Gipfel werde er klar sagen, "dass wir keinerlei Verständnis für die taktischen Spielchen der konservativen Torys haben, mit denen sie Zeit gewinnen wollen, um ihren innerparteilichen Machtkampf auszufechten".

Die deutsche Wirtschaft warnte Deutschland und die EU davor, die Briten bei ihrem EU-Austritt zu verärgern und damit deutsche Arbeitsplätze zu gefährden. Im Gespräch mit der "Bild"-Zeitung vom Montag forderte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Martin Wansleben, die engen Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien auch nach einem Brexit aufrechtzuerhalten.

Die EU-Kommission berät am Nachmittag über Konsequenzen aus dem Referendum, bei dem knapp 52 Prozent der Briten für einen Austritt gestimmt hatten. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini trifft US-Außenminister John Kerry, der am selben Tag in London noch mit seinem Amtskollegen Philip Hammond über den Brexit sprechen will.

Gipfeltreffen

EU-Ratspräsident Donald Tusk kommt zunächst in Frankreich mit Präsident François Hollande zusammen und trifft danach in Berlin die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Merkel empfängt danach Hollande und den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi zu Besprechungen über die Konsequenzen der Abstimmung. Es dürfte vor allem um den Ablauf des Scheidungsverfahrens gehen.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier trifft am Montag in Prag mit seinen Kollegen aus Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei zusammen, um über die Folgen zu beraten. In Großbritannien leben und arbeiten hunderttausende Menschen aus Mittelosteuropa, die nun um ihre Zukunft bangen.

Auch das irische Parlament trifft sich am Montag zu einer Sondersitzung zum Brexit-Votum. Präsident Michael Higgins reist unterdessen zu einem dreitägigen Besuch nach Schottland. Die schottische Regionalregierung bereitet sich auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum vor. Regierungschefin Nicola Sturgeon erklärte am Sonntag, das Regionalparlament könnte ein Veto gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU einlegen. Gleichzeitig warnte sie Cameron und "jeden zukünftigen Premierminister" davor, ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum zu unterbinden. Einer am Sonntag veröffentlichten Umfrage der Zeitung "Daily Record" zufolge sind 54 Prozent der Schotten für eine Unabhängigkeit des Landesteils.

Papst Franziskus rief die Europäer zu kreativen und praktikablen Lösungen auf. Zugleich zeigte er sich besorgt über den Zustand der EU. "Es weht ein Wind der Trennung", sagte Franziskus am Sonntagabend auf dem Rückflug von seinem dreitägigen Besuch in Armenien nach Angaben der Nachrichtenagentur Ansa. "Da ist etwas, das nicht funktioniert in dieser schwerfälligen Union. Vielleicht muss man über eine neue Form der Union nachdenken, eine freiere", erklärte der 79-Jährige. "Aber man muss auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten." (APA, 27.6.2016)