Die meisten französischen Politiker tragen nach dem Brexit den gleichen Satz im Mund: "Mit der EU kann es nicht wie bisher weitergehen." Der konservative Oppositionschef Nicolas Sarkozy will die EU-Außengrenzen besser schützen, der Sozialist François Hollande hingegen den Wirtschaftsmotor mit öffentlichen Investitionen anwerfen. Beide meinen unisono, die Eurozone brauche endlich eine kollektive Wirtschaftsregierung.

Allein, die Deutschen wollen weder eine solche Wirtschaftsregierung noch neue Milliardenspritzen. Für Hollande aber ist nun oberste Priorität, die Ausgabenzügel schleifen zu lassen – vor allem, weil in Frankreich im Frühjahr 2017 Präsidentschaftswahlen sind und der unpopuläre Präsident mit dem Rücken zur Wand steht.

Und das nicht nur, weil die Rechtspopulistin Marine Le Pen nach dem Brexit noch stärker auftrumpft und ein Frexit-Referendum über den EU-Ausstieg Frankreichs verlangt. Sondern auch, weil inzwischen der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon die Abkehr vom deutschen Spar- und Austeritätskurs verlangt, der die ganze EU in den Abgrund reiße. Ansonsten wolle seine Partei ebenfalls "die EU verlassen", wie Mélenchon am Freitag twitterte.

Frankreich ist zwar echt besorgt um die Zukunft der französisch inspirierten EU. Zugleich kann die Regierung in Paris dem Brexit auch gute Seiten abgewinnen: An der Seine hofft man, einen Teil des abwandernden Finanzplatzes London "erben" zu können. Und vor allem sind die französischen Eurokraten erleichtert, die liberalen Briten loszuwerden, nachdem diese jeden auch nur halbwegs dirigistischen Ansatz in Brüssel aus Prinzip bekämpft hatten.

In Paris hofft man auch, nach dem Ausscheiden Londons wieder zu Berlin aufschließen zu können, was die Machtstellung in der EU angeht. In einer geschrumpften Kontinental-EU werden Paris und Berlin zweifellos mehr um die Kurshoheit rangeln als am gleichen Strick ziehen. Für Hollande ist der Moment gekommen, sich wieder am übermächtigen deutschen Partner zu messen, der seit der Wiedervereinigung von 1990 mehr Gewicht als Frankreich hat. (Stefan Brändle aus Paris, 27.6.2016)