Die Reaktion vieler Briten auf den Brexit ähnelt dem Empfinden Trauernder nach einem Todesfall. Schock, Depression, Wut – diese Skala der Emotionen ist seit Freitag zu beobachten, und zwar keineswegs nur im Lager der Befürworter eines EU-Verbleibs.

So stand den führenden Brexit-Anhängern Michael Gove und Boris Johnson der Schock ins Gesicht geschrieben, als sie am Freitagmorgen auf den Rücktritt von Premierminister David Cameron reagieren mussten. Ihre totale Verantwortungslosigkeit nach einem von Lügen gekennzeichneten Abstimmungskampf zeigt sich in der Abwesenheit eines wie auch immer gearteten Plans für die nächsten Schritte.

Dabei ist der völkerrechtlich bindende Vertrag von Lissabon ganz eindeutig: Jedem Mitglied der EU steht laut Artikel 50 der Austritt frei. Wer seinen Scheidungsbrief abgibt, darf binnen zwei Jahren auf eine Lösung hoffen. Nicht vorgesehen ist die jämmerliche Haltung der Londoner Verantwortlichen. Schon die Absicht des scheidenden Regierungschefs Cameron, seinem Land bis zur parteiinternen Wahl eines Nachfolgers Anfang Oktober Luft zu verschaffen, ist liebenswert, aber nicht praktikabel. Vollends unrealistisch klingen führende Brexit-Anhänger: Sie wollen die Abspaltungserklärung bis nach der deutschen Bundestagswahl im September 2017 zurückhalten.

Da offenbart sich die gefährliche Selbstüberschätzung der Erben eines einstmals großen Empire, gepaart mit verächtlicher Ignoranz gegenüber den politischen Realitäten Europas. Kein Fußballteam, und sei es noch so sehr in der Formkrise, kann sich einen maulenden Spieler leisten, der seine Leistung verweigert und auf den Transfer pocht, aber auf der Bank hockenbleibt. Der Spieler muss weg. Großbritannien muss weg, und zwar so schnell wie möglich.

Bei den Unterlegenen scheint die anfängliche Depression unmittelbar in Zorn oder sinnlosen Aktivismus übergegangen zu sein. Eine Onlinepetition, die im Kern das Referendum anficht, erhielt binnen 36 Stunden beinahe drei Millionen Unterschriften. Hätten in den vergangenen Wochen wenigstens ein Drittel der echten Unterzeichner jeweils einen Brexit-Wähler umgestimmt, wäre die Kalamität zu vermeiden gewesen. Mausklicks am Schreibtisch werden auch in Zukunft persönliche Gespräche nicht ersetzen.

Grotesk wirkt auch das Spektakel in der Labour Party. Der Vorsitzende Jeremy Corbyn gehört dem EU-feindlichen linken Flügel an. Die überwältigend proeuropäische Fraktion im Unterhaus zwang ihm eine Kampagne zugunsten des Verbleibs auf. Dementsprechend enthusiastisch agierte der 67-Jährige, ließ seine Aktivisten im Gespräch mit den höchst skeptischen Wählern allein. Jetzt rebelliert das Schattenkabinett gegen den zur Führung Ungeeigneten, ohne dass sich eine glaubwürdige Alternative abzeichnet.

Irgendwann stellt sich bei Trauernden normalerweise die Akzeptanz des Geschehenen ein. Die Briten sind davon weit entfernt. (Sebastian Borger, 27.6.2016)