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Nigel Farage mit Ukip (UK-Independence-Party) war einer der lautesten unter den Brexit Befürwortern.

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Britische Zeitungen am Samstag

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STANDARD: Sie sind Deutscher, haben in Schottland studiert, kennen das Land gut, hätten Sie so ein Ergebnis für möglich gehalten?

Zuleeg: Ja. Es gab schon länger Tendenzen, dass der Europaskeptizismus in Großbritannien stärker geworden ist. Die Erwartung, dass die Menschen am Ende pragmatisch für die EU entscheiden würden, war verfehlt. Aber es ist schon ein Schock, wenn es dann dazu kommt.

STANDARD: Welche Fehler hat man gemacht von EU-Seite, wie kann so etwas passieren, ein historischer Rückschlag?

Zuleeg: Man hätte mehr machen können, aber nicht im Zeitrahmen der drei Monate des Referendums. Wenn, dann hätte man über die vergangenen Jahre daran arbeiten müssen. An der negativen Darstellung der EU, die konstant in den britischen Medien da war und konstant von britischen Politikern weitergeführt wurde, da hätte man ansetzen müssen.

STANDARD: Also Grund für die EU-Partner, sich eine gewisse Mitschuld für das Ergebnis zu geben?

Zuleeg: Ich muss schon sagen, dass man bereits seit 2011 wusste, dass es ein Referendum geben wird. Man hätte sich schon besser vorbereiten können.

STANDARD: Auffällig am Ergebnis ist die Zerrissenheit von Großbritannien. Es gibt gewaltige Unterschiede beim Abstimmungsverhalten zwischen Schottland und Wales, zwischen London und England, den Jungen und den Älteren. Wie erklären sie das?

Zuleeg: Die regionalen Unterschiede wurden noch verstärkt. Wenn man sich ansieht, wie sich das mit Schottland entwickelt, könnte das wirklich bald ein gespaltenes Land sein wird, wenn Schottland sich loslöst. Das ist eine realistische Möglichkeit. Wir haben eine Gesellschaft, die sich schon über Jahre auseinandergelebt hat, und da war die Europafrage eigentlich nur ein Anlass.

STANDARD: War es eine Abstimmung gegen die Regierung?

Zuleeg: Ja, auch gegen die etablierten Parteien, das Establishment. Das sehen wir gegenwärtig in vielen Ländern in Europa, und auch in den USA. Viele haben das Gefühl, dass man es denen da oben zeigen muss. Wir sind eigentlich in einer Situation, in der es um eine Demokratiekrise geht, nicht so sehr um eine Europakrise.

STANDARD: Könnte das Referendum ein Zerbröseln in Europa auslösen, oder ist Großbritannien ein Einzelfall?

Zuleeg: Ich glaube nicht, dass es in den nächsten Jahren zu so einer Entwicklung kommt. Es hängt viel davon ab, was für ein Deal für den Austritt jetzt gefunden wird. Wenn es dazu führt, dass Großbritannien weiter am Binnenmarkt profitieren kann, die Privilegien eines Mitglieds genießt, aber sich dann gewisse Sachen auswählen kann, etwa wenn das Land Sozial- und Umweltstandards nicht erfüllen will, dann würden auch andere diesem Beispiel folgen wollen. Da wird man auf europäischer Seite sehr stark verhandeln und klarmachen, wer im Klub bleiben will, muss die Regeln befolgen, wenn nicht, ist man draußen.

STANDARD: Bleiben wollen sie ja nicht, wird das nicht eher wie die Schweiz oder die Türkei heute, die enge Beziehungen als Drittländer haben?

Zuleeg: Das auf jeden Fall. Aber es gibt die Illusion der Brexit-Befürworter die glauben, dass man den Austritt politisch vollzieht, aber nicht wirtschaftlich, und dass man wirtschaftlich die Privilegien genauso genießt wie vorher.

STANDARD: Wird das nicht so sein?

Zuleeg: Nein, es ist wirklich so, dass man sagen muss, jemand ist wirklich draußen, wenn er sich entscheidet und die gemeinsamen Regeln nicht befolgen will.

STANDARD: Welche Nachteile hätte Großbritannien?

Zuleeg: Das sehen wir jetzt schon, die Märkte reagieren bereits. Es wird langfristig für den Finanzsektor schwierig, und ich denke, es werden auch die Investitionen deutlich runtergehen. Großbritannien ist attraktiv als Teil des Binnenmarktes, es gibt viel Produktion, die für den Binnenmarkt bestimmt ist. Wir werden eine deutliche Wachstumsbeschränkung sehen über die nächsten Jahre. Das wird Großbritannien und dem Rest Europas schaden, aber die größeren Schäden werden in Großbritannien sein.

STANDARD: Was bedeutet das für die 27 EU-Partner?

Zuleeg: Zuerst einmal ist es ein großer Schock, es hat niemand wirklich erwartet. Bis gestern hatte man noch das Gefühl, es wird schon gut gehen. Das muss man erst verdauen. Man muss auch schauen, was die nächsten Schritte in London sind. Wann wir Großbritannien bekanntgeben, dass es austritt. Da gibt es einen formellen Prozess, den man befolgen muss. Wann beginnt das, und wer wird diese Verhandlungen führen?

STANDARD: Premierminister Cameron wird es nicht sein, der hat seinen Rücktritt angekündigt.

Zuleeg: Das bedeutet, für Großbritannien und Europa bedeutet das erst einmal Unsicherheit, wir wissen erst einmal nicht, was passiert. Längerfristig verliert Europa Gewicht in der Welt. Man wird die EU anders wahrnehmen in der Welt ohne Großbritannien, weil der Integrationsprozess zum ersten Mal rückwärts verläuft. Bisher ging es immer vorwärts. Das hat eine Signalwirkung. Die Gegner Europas werden sich freuen, sowohl innerhalb Europas wie außerhalb. Was dabei rauskommt, ist ein geschwächtes Europa.

STANDARD: Wie wird die EU darauf reagieren?

Zuleeg: Zuerst mal wird man relativ wenig sagen, das Votum akzeptieren, und abwarten, wer auf britischer Seite die Federführung haben wird. Es hängt davon ab, wann Großbritannien den Austrittsbrief abgibt, vorher kann man überhaupt nichts machen. Dann allerdings muss man eine europäische Verhandlungsposition einnehmen. Dazu gehört auch, wie man sich zu Schottland verhalten will. Würde es sich Richtung Unabhängigkeit bewegen, würde man Schottland willkommen heißen, oder aus internen Gründen die Schotten außen vorlassen.

STANDARD: 2017 stehen auch Wahlen in Frankreich und Deutschland an, was heißt das für die weitere Integration?

Zuleeg: Davon werden wir zunächst mal wenig sehen, weil der Prozess mit den Briten viel politisches Kapital braucht. Und es gibt viele Problemknoten, die mit den Briten nichts zu tun haben, denken Sie an die Schwierigkeiten, die Deutschland und Frankreich miteinander haben. Wenn diese Unterschiede sich nicht beilegen lassen, wird es sowieso nicht weitergehen.

STANDARD: Wird man später ohne Großbritannien besser weiterkommen bei der Vertiefung der Gemeinschaft?

Zuleeg: Ich glaube, es wird nicht leichter gehen, weil die Unterschiede auch zwischen den Euroländern da sind, weil die Krise mit dem Brexit eine längerfristige sein wird. Wir müssen uns generell einmal entscheiden, inwiefern die Integration Europas eine der Eurozone ist, oder ob wir weiterhin von einem erweiteren Europa ausgehen. Wir müssen uns entscheiden, welchen Status Länder kriegen, die eine dauerhafte Beziehung mit der Europa haben, aber nicht in der Union sein wollen, Stichwort Türkei und Ukraine, die noch nicht bereit sind. Das wird uns auf Jahre beschäftigen. Und wir müssen viel mehr tun, um die Bevölkerung mitzunehmen. Das lässt sich nicht einfach auf dem Verhandlungstisch lösen.

STANDARD: Das klingt alles nach einer langen fortgesetzten Krise, oder?

Zuleeg: Es war eine Illusion zu glauben, dass so ein Referendum die Krise beilegen werde. Auch bei einem Verbleib in der EU hätte es weiter Probleme gegeben. Aber sicherlich, der Brexit wird uns jetzt noch jahrelang beschäftigen. Hilfreich ist es nicht. (Thomas Mayer, 25.6.2016)