Wien – Wie wirkt sich ein Brexit auf Unternehmen und auf Arbeitnehmer aus? Diese Frage wurde zwischen Gegnern und Befürwortern eines Austritts Großbritanniens aus der EU in den vergangenen Wochen besonders hitzig diskutiert.

Die Argumente der Remain-Fraktion sind den meisten gut bekannt. Sollte Großbritannien aus der Union ausscheiden, droht das Land vom europäischen Freimarkt abgeschnitten zu werden. Industrieunternehmen, die Waren nach Europa liefern, und die britischen Banken würden zahlreiche Kunden verlieren. Am Ende des Tages könnten hunderttausende Jobs verlorengehen, sagen proeuropäisch eingestellte Ökonomen und Politiker.

Aber warum glauben jene, die für einen Austritt Großbritanniens kämpfen, das man allein besser dran wäre? Was sind die ökonomischen Sachargumente abseits der Tatsache, dass sich London nach einem Brexit Beitragszahlungen an die EU ersparen würde?

Ökonomen, die für den Austritt kämpfen

Es zahlt sich aus, einen Blick auf die Positionen der EU-Gegner zu werfen, weil sie Aufschluss darüber geben, in welche Richtung sich Großbritannien nach einem Ausscheiden aus der Union entwickeln könnte. Dabei muss man strikt zwischen zwei Lagern unterscheiden. So gibt es eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftern (Economists for Brexit) und größeren Plattformen (www.Voteleavetakecontrol.org, leave.eu), die aus einer unternehmensfreundlichen und wirtschaftsliberalen Perspektive heraus argumentieren. Vor allem Politiker aus den Reihen der regierenden Tories unterstützen diese Strömung der Brexit-Befürworter.

Auf der anderen Seite gibt es auch eine kleinere linke Bewegung, die für einen Austritt wirbt. Eine der Plattformen, die auch von Labour-Abgeordneten unterstützt wird, wirbt etwa mit dem Slogan, dass es Zeit für einen "Lexit", also einen linken Ausstieg aus der Union, sei.

Kann die City of London auch ohne EU-Mitgliedschaft Großbritanniens gut auskommen? Ja, sagen die Brexit-Befürworter: Ohne EU-Bürokratie sei man besser dran.
AFP

Was sind nun die einzelnen Argumente? Aus dem unternehmensfreundlichen Lager heißt es, dass die EU-Bürokratie eine Reihe von Regulierungen auferlegt, die Großbritanniens Unternehmen davon abhalten, ihr volles Potenzial zu entfalten.

Ein besonderer Dorn im Auge ist den Brexit-Unterstützern eine EU-Richtlinie über "bestimmte Aspekte der Arbeitsgestaltung", die zuletzt 2003 geändert wurde. In diesem Gesetz werden den EU-Ländern Mindestvorgaben für den Schutz von Arbeitnehmerrechten gemacht. So wird etwa festgelegt, dass ein vierwöchiger bezahlter Urlaub in der Regel allen Beschäftigten zusteht. Es gibt in der Richtlinie auch Vorschriften zu zwingend einzuhaltenden Ruhezeiten. Pro Woche darf im Regelfall die Arbeitszeit von etwa 48 Stunden nicht überschritten werden.

Teure Vorgaben aus Brüssel

Solche Regelungen erhöhen nur die Kosten für Unternehmen, schreiben die Wirtschaftswissenschafter aus der Gruppe der Economists for Brexit. Der Thinktank Open Europe, der EU-kritisch, aber nicht unbedingt für den Brexit ist, hat diesbezüglich sogar eine konkrete Zahl parat: Die erwähnte Richtlinie koste die britische Wirtschaft pro Jahr 4,1 Milliarden Pfund (5.3 Milliarden Euro).

Die Gewerkschaften sehen das anders und erinnern daran, dass die Arbeitszeitvorgaben aus der EU die Belastung für hunderttausende britische Arbeitnehmer gesenkt hätten. Sollte der Brexit kommen, drohte eine 60-Stunden-Woche, so ihr Argument. Mehr als 7,4 Millionen britische Arbeitnehmer hätten allein dank der Vorgaben aus Brüssel einen bezahlten Urlaubsanspruch erhalten, rechnete der gewerkschaftliche Dachverband Großbritanniens (Trades Union Congress) unlängst vor.

Gegen strenge Regeln für Chemikalien

Die Brexit-Unterstützer wollen darüber hinaus eine Reihe weiterer Regeln loswerden. Bei "Voteleavetakecontrol" wird etwa argumentiert, dass die europäischen Vorgaben für die Zulassung chemischer Produkte zu langwierig seien. In der EU gilt im internationalen Vergleich ein strenges Regime. Für die Zulassung einer Chemikalie muss deren Ungefährlichkeit nachgewiesen werden. Dies regelt eine Verordnung aus dem Jahr 2003 ("Reach"). Weil die Vorgaben streng sind, gilt die Regel selbst unter strikten Umweltschützern als ein Meilenstein. Doch aus Sicht der Brexit-Befürworter ist Reach ein zusätzlicher Kostenverursacher für die Industrie.

Die Economists for Brexit kritisieren interessanterweise auch, dass die EU sich zu sehr im Kampf gegen die globale Erwärmung engagiere. Im Vergleich zu anderen Wirtschaftsräumen, etwa den USA, seien die Vorgaben in Europa so strikt, dass sie Arbeitsplätze kosten.

Freihandel mit Australien

Als reine Befürworter einer Abschottungspolitik kann man die Brexit-Unterstützer übrigens nicht bezeichnen. Im Gegenteil: Die Vote-Leave-Kampagne argumentiert, dass man ohne die EU viel mehr Freihandel treiben könnte.

Ohne die EU könnte Großbritannien mit Ländern wie Neuseeland oder Australien (im Bild ein australischer Koala) lukrative Freihandelsabkommen schließen.

In der EU müssen alle 28 Länder eingebunden werden, um ein Freihandelsabkommen abzuschließen. Wenn London allein entscheiden könnte, ginge das wesentlich schneller, wird behauptet. Also könnte Großbritannien Freihandelsabkommen mit Australien, Neuseeland, Indien und Malaysia schließen. Die EU hat bisher keine solchen Verträge mit den genannten Ländern abgeschlossen, britische Unternehmen könnten also einen Startvorteil nutzen.

Die Economists for Brexit argumentieren hier etwas anders. Der Ökonom Patrick Minford von der Cardiff University etwa meint, dass Großbritannien gar keine Freihandelspakte brauche, stattdessen aber einfach alle Importzölle einseitig abschaffen sollte. Britische Konsumenten und Unternehmen würden davon profitieren, dass sie billiger an ausländische Waren rankommen. Dieser Vorteil würde mögliche Nachteile durch ausländische Billigkonkurrenten mehr als ausgleichen, so Minford.

TTIP mit dem Brexit verhindern

Aus dem linken Lager heißt es dagegen, dass eines der angepeilten Freihandelsabkommen der EU, nämlich TTIP, der beste Grund dafür ist, um die Union zu verlassen. Die Argumente kennt man aus Österreich: Mit TTIP würden die hohen Standards bei Lebensmitteln oder bei der Zulassung von Chemikalien gelockert.

Die Sparpolitik der vergangenen Jahre wird als ein weiteres Argument der Lexit-Befürworter gebracht. Die EU-Kommission hat die Sparpakete in Griechenland und Portugal unterstützt und mit ausverhandelt. Dies sei ein klarer Beleg dafür, dass die Union insgesamt ein neoliberales Projekt sei, in dem es kein Vorbeikommen an Privatisierung und Flexibilisierung zulasten der Arbeitnehmer gebe. Schließlich: Ein Austritt aus der Union könne ein weiteres Erstarken der Londoner Finanzindustrie verhindern, heißt es aus dem linken Lager.

Wie sehr all diese Argumente gezogen haben, wird man Freitagmorgen wissen. (András Szigetvari, 23.6.2016)