Trainer Del Bosque erläutert gestisch auch bedenklich, Gerard Piqué scheint aber zu erkennen (oben) oder zu politisieren (unten).

Foto: AFP/ MEHDI FEDOUACH

Bordeaux – Es war eine geradezu unscheinbare Geste. Aber sie versetzt ganz Spanien in Aufregung – beziehungsweise halt jenen Teil, der gerade bei so was gerne in solche Aufpudelei gerät, dass daraus flugs ein ganzer Scheißsturm wird.

Es war so: Gerard Piqué, der Innenverteidiger der Furia Roja, mit der er 2010 Weltmeister und 2012 Europameister geworden ist, hat den Mittelfinger gezeigt! Während der Hymne! Nein, sagte Piqué, das habe er sicher nicht. Vielmehr habe er "die Finger gekreuzt", was durchaus stimmen könnte, wäre Piqué ein motorisch sehr Unterbegabter. Was der bei ManUnited und Barça zu hohen Ehren Gekommene nachweislich nicht ist.

Warum aber hat er, in dem Moment, als der Kameramann die spanische Hymnenfront abschritt und Piqué passierte, den stinkerten Schimpf- und Beleidigungsfinger jener Hand ausgefahren, die so freundschaftlich-jovial auf Goalie David de Geas Schulter lag?

Darüber eben wird emsig und energisch spekuliert und, aus der aufpudelnden Spekulation heraus, entsprechend shitgestormt.

Gerard Piqué ist nämlich nicht nur ein geborener, sondern auch ein bekennender und somit autonomistischer oder gar separatistischer Katalane, sodass das Kreuz mit dem bloßen Fingerzeig sogleich in die falsche – die politische – Kehle geriet. Vergleichbar ist das wohl mit der stets hervorkrambaren Debatte, ob der Umstand, dass Marko Arnautovic oder Aleksandar Dragovic die Bundeshymne nicht mitzusingen pflegen, ein Ausdruck mangelnden Österreichertums wäre.

Die Marcha Real, der Königsmarsch der Iberer aber, hat keinen Text. Man konnte sich auf keinen einigen. Der letzte diesbezügliche Vorschlag stammt von 2008. Da hat das Nationale Olympische Komitee sogar einen Dichterwettbewerb veranstaltet, weil es der – nicht ganz unrichtigen – Meinung war, es gehöre vor allem für Kicker halt dazu, sich in einen dann auch ballesterisch verwertbaren Patriotismus hineinzusingen, anstatt, Maulaffen feilhaltend, sich in einen solchen hinüber zu imaginieren. Hätte Piqué seine Distanz zur hispaniolischen Glorie ausdrücken wollen, was wäre ihm anderes übriggeblieben, als der defilierenden Kamera verschämt den Mittelfinger anzudeuten.

Den Stefan Effenberg – der während der WM 1994 in Richtung der eigenen Fans den Finger hat erigieren lassen – machte Piqué eh nicht. Er richtete ihn abwärts. In Worten hieße das dann also nicht, man möge ihn, den Piqué, moscherln oder buckelfünferln. Sondern, wenn schon, dann: ang'lahnt lassen. Aber das eben hat Gerard Piqué auch nicht gemeint. Er hat die Finger ja gekreuzt, nicht den gereckt. Wie sehr im kleinen Raum zwischen die und den draufgedroschen wird auf den Ball, ist schon erstaunlich. Ganz unspanisch eigentlich. Eher katalanisch.

Katalanische Kunstform

Das Spiel der spanischen Nationalmannschaft verdankt sich tatsächlich zum größten Teil der katalanischen Kunstform, die beim FC Barcelona kultiviert worden ist. Implementiert durch Johan Cruyff, der denn auch als Spieler der Selecció Catalana tätig war. So wie Pep Guardiola und viele andere Gute. Seit 1904 gibt es die Auswahl, die stets mit madrilenischen Argusaugen betrachtet wird und ohne Segen der Fifa antritt.

Der Shitstorm wird sich legen. Spanien mit seinen fünf Katalanen – Iniesta, Busquets, Fàbregas, Jordi Alba, Piqué – braucht im Achtelfinale Katalonien mehr als umgekehrt. Es war ein Andalusier – Piqués Innenverteidigerkollege Sergio Ramos mit dem verschossenen Elfer -, der den Titelverteidiger in die Rue de la Gack, das Achtelfinale gegen Italien, geführt hat. Im Vergleich dazu ist der Stinkefinger, wie es in ballesterischen Kreisen heißt, primär. (wei, 22.6.2016)