Die Banken, Währungs- und Wirtschaftskrise klingt zwar in einigen der direkt betroffenen Staaten ab. Die sozialen Folgen der mit den Bankenrettungsprogrammen einhergehenden Einsparungsmaßnahmen sind gleichwohl dramatisch und stellen das Solidaritätsversprechen, das Staaten und Völker der EU mittels der Verträge eingegangen sind, auf eine harte Probe. Die Flüchtlingswellen belasten dabei die unter der Wirtschaftskrise leidenden Gesellschaften Südeuropas besonders.

Der innere Zusammenhalt Europas wird in diesem Zusammenhang vor allem durch die Regierungen zahlreicher ost- und mitteleuropäischer Mitgliedstaaten infrage gestellt. Tschechien, die Slowakei, Rumänien und Ungarn verweigern sich dabei nicht nur der Aufnahme, Registrierung und Betreuung der Flüchtlinge. In sehr viel grundsätzlicherer Manier hinterfragen sie die Bedingungen ihres EU-Beitritts und damit auch Grundpfeiler ihrer Mitgliedschaft: Wie alle anderen EU-Staaten auch erklärten sie sich zuletzt im 2009 in Kraft getretenen Lissabonner Vertrag bereit, die Asyl-, Außengrenzkontroll- und Migrationspolitik der EU dem Prinzip der Mehrheitsentscheidung im Ministerrat der EU zuzuführen. Als unterlegene Minderheit der Ratsentscheidung vom September 2015 über die Verteilung von Flüchtlingskontingenten klagen sie nun beim Europäischen Gerichtshof gegen das Mehrheitsverfahren und blockieren eine gerechte Verteilung der nach Europa strömenden Migranten.

Die Wirtschafts- und die Flüchtlingskrise schaukeln sich zu einer politischen Systemkrise auf und entfalten Konfliktfelder, die die Auseinandersetzung über den "richtigen" Integrationskurs zwischen Staaten, Institutionen und Bürgergesellschaften massiv belasten. Soweit dies im Rahmen der vertraglich etablierten Beratungs- und Entscheidungsstrukturen geschieht, ist gegen den auch laut ausgetragenen Streit nichts einzuwenden. Problematisch für den inneren Zusammenhalt der EU sind allerdings die offen vertragsfeindlich angelegten Alleingänge mancher Staaten. Hierbei die Bevölkerung über Referenda einzuspannen, dokumentiert ein exotisches Demokratieverständnis, dementsprechend eine Minderheit über den politischen Kurs der Mehrheit bestimmen soll.

Nicht nur im vergangenen niederländischen (Ukraine-EU-Referendum), sondern auch im Fall der britischen Abstimmung über den EU-Austritt manifestiert sich dieses gefährliche, den klassischen Instrumenten des Populismus entlehnte Demokratieverständnis. Aus rein innenpolitischen Motiven berief Premierminister Cameron ein Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens ein. Erst im Anschluss daran setzte er die Partner der EU in Zugzwang, um mit ihnen neue, besondere Ausnahmen der britischen EU-Mitgliedschaft auszuhandeln. Vor diesem Hintergrund steht die EU vor der Wahl zwischen Pest und Cholera: Meinen mehr als 50 Prozent der britischen Bevölkerung, das ihr Staat besser außerhalb der EU aufgehoben ist, müssen London und die EU einen in seinen Auswirkungen nur ansatzweise kalkulierbaren Scheidungsprozess einleiten. Von der Aushandlung des Austrittsvertrags wird dies bis zum Abschluss der Ratifizierung – auf jeden Fall in Großbritannien und im Europäischen Parlament – mindestens fünf Jahre in Anspruch nehmen. Jahre, in denen die Herausforderungen der EU in der Außen-, Migrations-, Wirtschafts- und Sozialpolitik eher zu- als abnehmen. Stimmt dagegen eine Mehrheit der Briten für den Verbleib in der EU, dann stehen langwierige Verhandlungen über die rechtliche Fixierung der im "Deal" zwischen London und EU vereinbarten Sonderregeln bevor.

In beiden Szenarien rückt Großbritannien vom Solidarverbund der EU ein weiteres Stück ab: Im Fall des Brexits werden die anderen europäischen Partner auf eine rasche Aushandlung des Austrittsvertrags drängen, um möglichen Nachahmern die negativen Folgen eines EU-Austritts so drastisch und unmittelbar wie möglich vor Augen zu führen. Denn sicher dürfte bereits jetzt sein, dass ein Austrittsvertrag nicht auf eine "EU-Mitgliedschaft light" oder eine besondere "privilegierte Partnerschaft" hinauslaufen wird, bei der sich London die Rosinen des Binnenmarktzugangs, der Waren-, Finanz- und Kapitalverkehrsfreiheit herauspickt. Der Austrittspreis wird so hoch ausfallen, dass allen Beteiligten klarwird, dass die Nichtteilnahme am europäischen Integrationsprogramm zwar Freiheiten in der Instrumentierung nationalstaatlicher Außen- und Innenpolitik, aber auch deutliche Beschränkungen hinsichtlich ihrer effektiven Geltendmachung in einer globalisierten Wirtschafts- und Sozialordnung impliziert.

Da sich mit dem Austritt Großbritanniens auch die Gewichte zwischen den EU-Staaten verschieben, werden insbesondere die kleineren EU-Staaten, aber auch Italien und Frankreich darauf drängen, Mechanismen innerhalb des EU-Systems zu installieren, die die von vielen befürchtete Hegemonialrolle Deutschlands einzufangen vermögen. Der britische Austrittsprozess provoziert somit auch einen innereuropäischen Reflexions- und Vertragsrevisionsprozess, um die Machtbalance zwischen Staaten und Institutionen zu reformieren.

Sollte eine Mehrheit der Briten gegen den Austritt stimmen, sind die Konditionen der Mitgliedschaft ebenfalls neu auszuhandeln. Denn in diesem Fall müssen die im "Deal" vom Februar 2016 politisch ausgehandelten, faktischen Teilaustritte Londons gerichtsfest normiert werden. Die Schere zwischen formaler und realer Vollmitgliedschaft wird dann erneut weiter gezogen. London nimmt bereits heute nicht an der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik, der Währungsunion und der Grundrechtecharta teil. Die vertragliche Fixierung des "Deals" steht in dieser seit 1993 eingeschlagenen Tradition des schleichenden Teilaustritts.

Es dürfte insofern niemanden überraschen, wenn auch ein "Bremain" Nachahmer auf den Plan ruft, die sich ihrerseits auf den Weg machen, um sich von der realen Vollmitgliedschaft schrittweise zu lösen. Wer den inneren Zusammenhalt der Union sichern will, wäre daher gut beraten, endlich auch die effektiven Kosten der faktischen Teilmitgliedschaft und offen die Vertretungsansprüche in den gemeinsamen Institutionen der EU zu diskutieren. Entscheidungen, die nur für einen Teil der EU-Bürgerschaft verbindlich gelten, sollten jedenfalls nicht länger vom Wohlwollen derjenigen Staaten abhängen, die sich nur noch teilweise dem normativen Gesamtpaket der EU-Integration verpflichten. (Andreas Maurer, 21.6.2016)