Im Herbst 2015 sorgte die Ankunft tausender Flüchtlinge in vielen Städten Europas für eine Welle der Solidarität – wie hier in Hamburg.

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Wien – 2015 waren weltweit mehr Menschen auf der Flucht als je zuvor. Das ist an Europa nicht spurlos vorübergegangen: 1,4 Millionen Menschen beantragten letztes Jahr in der EU Asyl, sie kamen vor allem aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Somalia und Nigeria. 1,8 Millionen illegale Grenzübertritte wurden registriert.

Bei 504 Millionen EU-Einwohnern wäre das theoretisch bewältigbar gewesen, so die Migrationsrechtsexpertin Christine Langenfeld von der Uni Göttingen gegenüber dem STANDARD: Es hätte nur jeder Staat an der Verteilung der Flüchtlinge mitwirken müssen – unter Berücksichtigung seiner Leistungsfähigkeit.

Langenfeld, Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Uni Wien, erörterte dort am Montag bei einer Podiumsdiskussion, warum das europäische Asylsystem gekippt sei: "Außenstaaten wie Griechenland waren überfordert mit der Zahl an Flüchtenden. Der Schutz der EU-Außengrenzen funktionierte nicht, Flüchtlinge wurden nach der Einreise nicht ordnungsgemäß registriert und stattdessen über die offene Balkanroute nach Deutschland und Österreich weitergeleitet."

Uneinheitliche Anerkennungsquoten

An die Stelle der Dublin-Regelung, der zufolge Asylanträge im Ankunftsstaat gestellt werden müssen, sei das "Prinzip der freien Wahl des Schutzstaates" getreten. Das Problem: Die Anerkennungsquoten für Flüchtlinge sind in der EU von Staat zu Staat unterschiedlich – auch dann, wenn die Flüchtlinge aus denselben Herkunftsländern kommen. "Wenn Sie gegenwärtig etwa in Italien oder Ungarn einen Asylantrag stellen, ist die Chance auf Anerkennung eine andere, als wenn Sie das in Österreich oder Deutschland tun", so Langenfeld. "Das führt zum sogenannten Asylshopping: Sie gehen ganz nachvollziehbar dahin, wo Sie sich die besten Chancen ausrechnen."

Die Folge: Die Ballung der Menschen in wenigen Mitgliedsstaaten, während andere Staaten bis heute keine Flüchtlinge aufnehmen. Um dem entgegenzuwirken, müsse eine EU-Behörde die Hoheit über die Asylverfahren bekommen. "Das würde zu einheitlichen Standards bei den Verfahren führen", so die Juristin.

Planbare Zuwanderung

Dass eine Europäisierung der Zuwanderung nötig ist, glaubt auch Heinz Faßmann, Migrationsforscher und Vizerektor der Uni Wien. "Ein weiteres wichtiges Ziel ist die planbare Zuwanderung, für die wir Strukturen aufbauen müssen, die notwendig für Integration sind." Dazu zählen Deutschkurse und Maßnahmen für die rasche Integration von Asylbewerbern in den Arbeitsmarkt.

Außerdem müsse sich nachhaltige Flüchtlingspolitik vor allem um jene Schutzbedürftigen kümmern, die eine Flucht gar nicht erst antreten können, weil ihnen etwa das Geld oder die Kraft dazu fehlt. "Bislang sind die Stärksten privilegiert, da sie die Flucht überstehen", so Christine Langenfeld. Ihr Vorschlag: In Krisenzeiten sollte die Europäische Union Programme für eine zeitlich befristete Aufnahme koordinieren. "Diese humanitäre Aufnahme wird zahlenmäßig nach oben begrenzt. So ist nicht ausgeschlossen, dass sich zögernde EU-Staaten bereiterklären, Flüchtlinge aufzunehmen, weil die Verpflichtung überschaubar bleibt."

Es handle sich um keine Obergrenze: Menschen, die um Leib und Leben fürchten, müssen weiterhin Asylanträge stellen können. Ob sich die Politik EU-weit auf eine Verteilung der Flüchtlinge einigen kann, bleibt indes unklar. (Julia Sica, 22.6.2016)