Am Donnerstag stimmen die Briten darüber ab, ob sie in der Europäischen Union bleiben wollen. Ein Austritt aus der EU wäre für die europäische Einigung ein gewaltiger Rückschlag – und das in einer Zeit, wo es durch die Eurokrise und die Flüchtlingsbewegungen wahrlich nicht an Herausforderungen mangelt.

Warum aber ist der Brexit heute eine reale Option? Sind die Briten so viel EU-skeptischer als andere EU-Bürger? Die erste Grafik zeigt, dass die EU-Skepsis in Großbritannien höher ist als in den meisten anderen Staaten. Jedoch ist die Bevölkerung in Ländern wie Zypern, Österreich und Slowenien ähnlich kritisch eingestellt.

Die öffentliche Meinung allein kann also nicht erklären, warum der Brexit heute eine reale Option ist, während in Ländern wie Österreich ein Austrittsreferendum nicht auf der Tagesordnung steht. Nicht einmal die FPÖ fordert derzeit offen den Austritt Österreichs aus der Europäischen Union. Um die Situation in Großbritannien zu erklären, muss man einen Blick auf die Rolle der politischen Parteien – mehr noch: auf innerparteiliche Dynamiken – werfen.

Die zweite Grafik zeigt anhand von Daten einer Expertenbefragung aus dem Jahr 2014, wie die einzelnen Parteien in den 28 EU-Staaten zur EU stehen (x-Achse) und wie hoch der innerparteiliche Dissens in dieser Frage ist (y-Achse). Hervorgehoben werden die vier relevantesten britischen Parteien: die Konservativen (blau), Labour (rot), die Liberaldemokraten (orange) und Ukip (violett).

Foto: Ennser-Jedenastik

Zwei Dinge stechen sofort ins Auge: Erstens sind die britischen Konservativen deutlich EU-skeptischer als viele andere Mitte-rechts-Parteien, vor allem jene mit christdemokratischen Wurzeln (die ÖVP liegt etwa bei 6,7 auf der Skala von 1 bis 7, die deutsche CDU bei 6,4).

Zweitens wird von den 245 untersuchten europäischen Parteien keine als mehr gespalten eingestuft als die britischen Tories. Tatsächlich ist es Premierminister David Cameron nicht einmal gelungen, in seinem eigenen Regierungsteam Einigkeit über die Brexit-Frage herzustellen.

Man stelle sich zum Vergleich vor, einzelne Minister der SPÖ oder ÖVP hätten bei der EU-Volksabstimmung 1994 wochenlang offen für ein Nein geworben. Kaum auszudenken, dass das nicht einen entscheidenden Karriereknick nach sich gezogen hätte.

Was Österreich und andere Staaten also vor einem Austrittsvotum bewahrt, ist nicht etwa ein positiveres öffentliches Meinungsklima zur EU. Vielmehr stehen in Österreich einer skeptischen Bevölkerung größtenteils EU-freundliche Politiker gegenüber (mit Ausnahme der FPÖ). In Großbritannien spiegelt sich die EU-Skepsis der Bevölkerung hingegen viel stärker in den Haltungen der politischen Elite wider – und das quer durch die Parteien. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 21.6.2016)