Die bevorstehende Entscheidung der britischen Wähler über die EU-Mitgliedschaft ihres Landes dramatisiert die internationale Diskussion über die vielbeschworene Unregierbarkeit Europas. Die Berichterstattung und die Literatur zu diesem Thema haben beinahe gigantische Ausmaße angenommen. Angesichts der besorgniserregend erfolgreichen politischen Offensive der EU-feindlichen rechtspopulistischen und aggressiv reaktionären Parteien ist es besonders wichtig, dass nicht nur auf der politischen Bühne, sondern auch in den Medien und im Bildungswesen die von der Hysterisierung der Flüchtlings- und Finanzkrise verdrängten Gefahren einer Rückkehr zu den Nationalstaaten aufgezeigt werden.

Was die antieuropäische Mobilisierung im Klartext bedeutet, konnte man auch bei dem von der FPÖ organisierten "Patriotischen Frühling" erfahren: "Erlaubt nicht, dass die fremden Einwanderer euer Blut aussaugen", rief der polnische EU-Parlamentarier Michal Marusik die begeisterten Zuhörer auf. Der Stargast, Marine Le Pen vom Front National, sprach von der "haarsträubenden Vision" der Rettung der EU ("ein großes Verhängnis") durch mehr Integration. In diesem Zusammenhang muss man davor warnen, wie es der Schweizer Wissenschafter Ulrich M. Schmid in der NZZ tat, das Adjektiv "faschistisch" pauschal zur Beschreibung von rechtspopulistischen Parteien zu verwenden. Die Gefahr droht nicht von einer angeblichen Wiedergeburt des Faschismus, sondern von der Verniedlichung, ja oft Verteufelung jener Institutionen, die Europa ein Leben in Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ermöglichen.

Die Geschichte ist kein Markt, auf dem man Stabilität zu ausgewiesenen Preisen kaufen kann", schreibt einer der scharfsinnigsten Beobachter, der deutsche Politikwissenschafter Claus Offe, in seinem Buch Europa in der Falle (Suhrkamp). Trotz scharfer Kritik an den Konstruktionsfehlern der Eurozone sei die Mitgliedschaft irreversibel. Würden alle Eurostaaten gleichzeitig zu ihrer nationalen Währung zurückkehren, so müssten in einer bestimmten Minute nicht weniger als 171 Wechselkurse zwischen den 19 Währungen simultan und ohne Vorankündigung in Geltung gesetzt werden. Eine Auflösung der Eurozone und über kurz und lang auch der EU wäre laut Offe eine politische und ökonomische Katastrophe, und auch eine moralische für die Verantwortlichen.

Obwohl vor der Brexit-Debatte geschrieben, warnt Offe vor einem Rückzug. Wenn man ausgetreten sei, habe man keine Stimme mehr. Es geht darum, die Konstruktion zu verbessern, anstatt sie abzuschaffen. Aber auch er plädiert für eine europäische Politik der sozialen Sicherheit. Die EU sollte mehr Mittel (bisher bloß ein Prozent ihres BIP) haben, und diese wären diesmal nicht der Rettung von Banken und Staaten gewidmet, sondern der von Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Jugendlichen, Rentnern und anderen Bürgern. Die Frage, ob eine solche europäische Umverteilung möglich wäre, muss dahingestellt bleiben. Eine Rückkehr zur Renationalisierung des Klassenkonfliktes würde noch größere Erschütterungen und Verwerfungen im europäischen Kontext auslösen. (Paul Lendvai, 20.6.2016)