Blumen zum Gedenken an die getötete Labour-Abgeordnete Jo Cox in der Nähe des Tatortes in Birstall. Bei seiner Verhaftung bezeichnete sich der mutmaßliche Mörder als "politischer Aktivist".

Foto: APA_AFP_OLI SCARFF

London/Wien – Mit betonter Vorsicht sind die Kampagnen für und gegen einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union am Sonntag wieder angelaufen. Am Donnerstagabend, genau eine Woche vor dem Referendum, waren sie nach dem Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox ruhend gestellt worden. Über das Wochenende war etwas mehr über den Hintergrund des mutmaßlichen Täters, Thomas M., bekanntgeworden: In seiner Wohnung fanden Ermittler rechtsextremes Schriftgut, bei seiner Verhaftung hatte er sich nach Aussage der Polizei als "politischer Aktivist" bezeichnet. Als er Samstag vor Gericht aufgefordert wurde, seinen Namen zu bestätigen, sagte er "Mein Name ist Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien!". Die Richterin forderte ein psychiatrisches Gutachten an.

Angesichts der aufgeheizten Stimmung bemühten sich beide Seiten im Streit um das EU-Austritts-Votum am Sonntag um sachliche Außenwirkung. Im Inhalt nahmen sie aber keinen Abstand von den teilweise in schriller Form geäußerten Warnungen. Premier David Cameron und Finanzminister George Osborne wiesen einmal mehr auf finanzielle Gefahr hin.

Verringerung des BIP

Osborne sagte, die wirtschaftlichen Folgen, die ein Austritt auf das Vereinigte Königreich hätte, würden unterschätzt – das BIP werde sich in den beiden Folgejahren um mindestens sechs Prozent verringern. Cameron betonte, dass bei einem Ausstieg eine Rückkehr versperrt sein werde. "Es handelt sich um eine unumkehrbare Entscheidung mit sehr schlechten Konsequenzen für die Wirtschaft", sagte er der "Sunday Times".

Die Zeitung aus dem Murdoch-Konzern rief dennoch zu einem Votum für den Brexit auf. Der linksliberale "Observer" - Sonntagsversion des "Guardian" – und das Boulevardblatt "Mail on Sunday" forderten ihre Leser auf, für einen Verbleib in der EU zu stimmen.

Gegen die giftige Rhetorik

Nicht nur deshalb wittert das "Remain"-Camp Morgenluft: Am Wochenende publizierte Umfragen deuten darauf hin, dass sich die Stimmung für den Verbleib verbessert hat. Zwar weisen die Demoskopen darauf hin, dass Teile der Umfragen schon vor dem Mord an Cox durchgeführt wurden – die Brexit-Befürworter bemühten sich dennoch am Sonntag besonders, Vorwürfen, sie hätten mit radikaler Rhetorik die Stimmung vergiftet, entgegenzutreten.

Der Chef der EU-feindlichen Partei Ukip, Nigel Farage, nannte den Mord "Terrorismus". Er war wegen eines Plakats in der Brexit-Kampagne, das mit Bildern von Flüchtlingen für einen EU-Austritt wirbt, auch in die Kritik geraten. Justizminister Michael Gove, Führungsfigur der Brexit-Kampage, sagte, das Poster habe ihn "erschaudern lassen". Sein Kampagnenkollege, Londons Exbürgermeister Boris Johnson, sagte derweil, er sei für eine Amnestie für all jene illegal eingereisten Migranten, die bisher schon im Land sind. (Manuel Escher, 19.6.2016)