Wohin das Auge schweift – es gewahrt bei den Wiener Festwochen heuer Gelungenes oder wenigstens Diskutables: Die Theaterexkursionen Frank Castorfs gehörten etwa zum erwartet Bemerkenswerten des Jahrgangs 2016.

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Tomas Zierhofer-Kin folgt auf Markus Hinterhäuser.

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Markus Hinterhäuser – künftig in Salzburg bei den Festspielen.

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Allzu neugierige Blicke können den Gegenstand der Anschauung auch verderben. Auf dem Katalogumschlag der Wiener Festwochen des Jahres 2016 sieht man einen Schmetterling abgebildet – ein Brennglas ist auf den Falter gerichtet. Erst die Rückseite offenbart die ganze Tragweite des forschenden Ehrgeizes. Eine Lücke klafft. Das anmutige Tier ist mitsamt dem ihm zugrunde gelegten Papier (symbolisch) durchgebrannt.

Ein Scheitern wird man den vergangenen drei Festwochen-Saisonen auf keinen Fall attestieren wollen. Ihr – alles in allem – glückliches Gelingen feit diese kurze Ägide jedoch nicht vor dem Gespenst der Flüchtigkeit. Intendant Markus Hinterhäuser zieht nach Salzburg zu den dortigen Festspielen weiter.

Und so kommt es, dass das Wiener Wirken dieses freundlich-zurückhaltenden Mannes von strikt episodischem Charakter zeugt. Alles richtig gemacht in den vergangenen drei Jahren? Klar doch. Mit der Erinnerung an die komponierende St. Petersburger Musikmystikerin Galina Ustwolskaja gelang dem Pianisten Hinterhäuser ein Coup. Kluge Schwerpunktsetzungen eröffneten den Zugang zu Kosmen wie dem jüdisch-sowjetischen von Mieczyslaw Weinberg. Oder man huldigte eben den "eiskalten Ungeheuern" der Moderne.

Schnelles Zerwürfnis

Im Felde des Sprechtheaters blieb jeder Programmehrgeiz von vornherein kursorisch. Dem Engagement der Belgierin Frie Leysen als Schauspieldirektorin folgte ziemlich rasch ein Zerwürfnis. Dieses hinterließ gekränkte Menschen, die ihre Lippen verkniffen, sobald die Rede auf die leidige Auseinandersetzung kam. Umsichtige Planungsarbeiten – von Kurator Stefan Schmidtke und heuer von Marina Davydova – lassen allerdings nicht vergessen, wie folgenlos und manchmal annähernd beliebig sich die Schauspielprogramme der Wiener Festwochen mittlerweile ausnehmen.

Am osteuropäischen Genius soll das Theater genesen. Dieses unsichtbare Motto einer irgendwie nachholenden Moderne bescherte 2016 nach der Reihe schöne "Aha"-Erlebnisse. Eine Tschechow-Produktion aus Nowosibirsk verzichtete von vornherein auf gesprochene Worte und rührte zutiefst ans Herz. Ein Spielvogt aus Rijeka ließ die österreichische Flagge aus dem Schoß einer Schauspielerin sich entwickeln. Man kann nicht sagen, es hätte wirklich solcher Tiefen der Betrachtung durchgängig bedurft. Die auf ausgiebige Romanlektüren gestützten Theaterexkursionen des Anarchisten Frank Castorf gehören in ihrer formatsprengenden Wucht längst zum Wiener Inventar. Wohin das Auge schweift, es gewahrt meistenteils Gelungenes oder wenigstens Diskutables (Wir Hunde von Signa). Zirzensische Exzesse wie Jan Fabres Mount Olympus fügen sich da gut ins Bild. Eilfertigkeit und beflissene Geschäftigkeit, wohin das Auge reicht.

Die alten Träume

Und doch zeigt das Gespenst der Beliebigkeit von Ferne seine Fratze. Als Markus Hinterhäuser bestellt wurde, saß ihm (nur kurz) Shermin Langhoff als Chefkuratorin zur Seite. Die Blicke der Verantwortlichen waren begierig auf "Gender Mainstreaming" und "Interkulturalität" gerichtet. Von kolossalen "Eigenproduktionen" träumte man, wie auch von niederschwelligen Angeboten an ein erst noch zu gewinnendes Festwochen-Publikum.

Der Geist der Utopie, einer – auch sozialen – Neuordnung hat sich so rückstandsfrei verflüchtigt wie der schöne Schmetterling auf der Rückseite des diesjährigen Programmkatalogs. Markus Hinterhäusers nunmehriger Nachfolger, also Tomas Zierhofer-Kin, der vom niederösterreichischen Donaufestival kommt, besitzt ab kommendem Jahr alle Chancen auf Nachhaltigkeit. Er muss nur praktisch Unmögliches leisten: Er soll das Erworbene verwalten und verteidigen, die Säle im Museumsquartier und das Theater an der Wien möglichst vollmachen. Demgegenüber soll er auch die Peripherie erschließen und das behäbige Festival mit neuen sozialen Realitäten konfrontieren, die gerade auch eine Stadt wie Wien in Atem halten.

Neue Formate wie die "Akademie des Verlernens", ein politisches Clubfestival für elektronische Musik, und die Schiene "Performeum", die den Museumsbegriff ad absurdum führen soll, will Zierhofer einbringen. Auch wird er, wie im Profil verlautet, Wien mit dem Exzentriker Jonathan Meese bekannt machen. Der inszeniert etwas nach Wagners Parsifal. Gut möglich, dass die Festwochen-Zeit reif ist für reine Toren. (Ronald Pohl, 19.6.2016)