Ein Polizist ist angesichts dutzender randalierender Hooligans in Marseille in Deckung gegangen. Pars pro toto. Viele Franzosen halten ihre politische Führung nicht mehr für fähig, die Nation vor dem Abgleiten in noch düsterere Zeiten zu bewahren.

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Zum Glück hat Frankreich noch Dimitri Payet. Der bisher wenig beachtete Mittelfeldspieler hat Frankreich zu seinen zwei ersten Siegen bei der Fußball-EM verholfen. Die großen Fernsehketten tun alles, um den von der französischen Südseeinsel La Réunion stammenden Spieler zum neuen Nationalhelfen zu stilisieren. Und die Franzosen applaudieren noch so gerne.

Aber zugleich sind sie nicht ganz bei der Sache; anders als bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich, als die Zidane-Elf die Nation im Verlauf des Turniers mehr und mehr mitgerissen hatte, beherrscht Fußball derzeit keineswegs die Tischgespräche.

Die EM erweist sich auch nicht als Lichtblick in einem düsteren sozialpolitischen Umfeld, sondern wird selber zum Problem. Seit dem Turnierbeginn vor einer Woche verfolgen die Franzosen aus nächster Nähe – weil live am TV und im Internet -, wie sich diverse gesellschaftliche Spannungen in einer Gewaltorgie entladen.

Schockierende Brutalität

Am vergangenen Samstag knöpften sich russische Hooligans aus Fanclubs oft rechtsextremer Prägung in Marseille englische Anhänger vor. Schockierend war die Brutalität der Attacken. Ein Russe trug an seinem Gürtel eine Videokamera, mit der er filmte, wie er gegen die Köpfe am Boden liegender Engländer trat, als wären es Fußbälle.

Am Montagabend ermordete ein Banlieue-Dschihadist westlich von Paris ein Polizistenpaar in einem stillen Einfamilienhausquartier. Bevor er neutralisiert wurde, schaltete er sich über die neue Live-App von Facebook fast eine Viertelstunde lang ins Internet und rief dazu auf, aus der Fußball-EM "einen Friedhof" zu machen. Seine Stimme war völlig ruhig, als hätte er nicht soeben einer Frau die Kehle durchgetrennt.

Am Dienstag kam es in Paris bei einer Demonstration gegen Frankreichs neues Arbeitsrecht erneut zu heftigen Krawallen. Vermummte griffen Bereitschaftspolizisten mit Fußtritten, Stangen und Asphaltbrocken an – und filmten das Ganze. Einige schlugen mit Vorschlaghämmern undurchsichtige Schutzscheiben des Kinderspitals Necker ein. Im Operationssaal dahinter musste für mehrere Kinder die Anästhesie abgebrochen werden.

Was die Nation vor allem verstört, ist die rohe Gewalt, auch wenn diese ab Mitte der Woche vorerst ein wenig abgenommen hat. Zugegeben, das bisweilen impulsive, gar revolutionäre französische Temperament war noch nie ein "langer, ruhiger Fluss", wie eine hiesige Filmsatire aus dem Jahr 1988 heißt. Doch was den Bürgern in die Fernsehstube oder auf das Handy flimmert, übertrifft alles Bekannte. Viele verstehen nicht, dass ihr so allmächtiger Staat dem gewaltsamen Treiben keinen Einhalt mehr zu bieten vermag. Sie vermissen die sichere Hand eines Präsidenten im Élysée-Palast, der mehr Autorität hätte als François Hollande; und sie fragen sich, ob nicht die Randale zu unterbinden und die Bluttat des – 2013 zu drei Jahren Haft verurteilten – Dschihadisten zu verhindern gewesen wäre.

Das Land ächzt

Doch die Lage ist zu gespannt. Politisch, weil in zehn Monaten Präsidentschaftswahlen sind; wirtschaftlich, weil das Land unter einer Rekordarbeitslosigkeit ächzt; und sozial, weil nicht nur einige "Radikalisierte" Frankreich bedrohen, sondern laut Polizeistatistiken gleich deren 8250. Die belgische Zeitung La Dernière Heure gab eine Geheimdienstmeldung weiter, wonach zwei Terrorkommandos vor einer Woche von Syrien aufgebrochen seien, um in Frankreich und Belgien Unheil anzurichten.

Bedenklich ist auch, dass der Fußball kein verbindendes Element mehr zwischen den Banlieue-Zonen und dem übrigen Frankreich darstellt. Vor achtzehn Jahren, als Frankreich im Stade de France Weltmeister geworden war, schwelgte die Nation im Gefühl des multikulturellen "Black-Blanc-Beur" (Schwarz-Weiß-Braun). Heute wirft Stürmerstar Karim Benzema, der wegen einer Sextape-Affäre nicht in das Nationalteam berufen wurde, den Trainern puren Rassismus vor. Und für Paul Pogba, der im neuesten Spiel gegen Albanien zur Pressetribüne hin den "Effenberg" gemacht hat, tritt der selbsterklärte Rassismusbekämpfer Nicolas Anelka ein. Die meisten Klicks erhalten er und Benzema stets in den Einwandererzonen.

Wer profitiert ist auch klar

Die gesellschaftliche Öffnung des WM-Jahres 1998 weicht heute diffusen Ängsten in der Bevölkerung. Die Langzeitfolgen sind schwer messbar, aber auf jeden Fall auch politisch. "Wir stellen fest, dass die Leute beginnen, die liberale Demokratie infrage zu stellen", meint Jérôme Fourquet vom Umfrageinstitut Ifop. "Sie fragen sich: Müssen wir uns an die Spielregeln halten, wenn andere sie nicht befolgen? In den Umfragen fällt eine Sicherung nach der anderen – von der Internierung bloßer Verdächtiger bis hin zur Todesstrafe." Und im Hinblick auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2017 meint der angesehene Umfrageforscher nicht wirklich überraschend: "Der erste Profiteur dieses Klimas ist der Front National."

François Hollande wird von den meisten Franzosen nicht mehr für fähig gehalten, die Nation vor dem Abgleiten in noch düsterere Zeiten zu retten. Der Fußball könnte immerhin für Ablenkung sorgen. Fürs Erste ruht die Hoffnung der verunsicherten Nation, dass die Wende zum Besseren möglich ist und vielleicht nur einen Auslöser braucht, auf Dimitri Payet. (Stefan Brändle aus Paris, 17.6.2016)