Nägelbeißen ist eine schlechte Angewohnheit, aber gar nicht selten. Es scheint zu beruhigen und ist immer dann verlockend, wenn das Leben stressig oder die Situationen irgendwie unangenehm oder schwierig sind. Viele kauen aber auch aus Fadesse.

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Ausgefranste Nagelhaut, tief abgekaute Fingernägel oder ein entzündetes Nagelbett, das nicht mehr von allein heilt: Die Folgen des Nägelbeißens reichen von ungepflegt aussehenden Fingern über blutende (Selbst-)Verletzungen bis hin zu Infektionen. Wer Nägel beißt, dessen Schwäche scheint für andere sichtbar – und ruft gerne auch die Hobbypsychologen auf den Plan: Was da wohl dahinterstecken mag?

So unterschiedlich die Auswirkungen des Nägelkauens sind, so vielfältig können auch die Ursachen der Onychophagie sein, so der medizinische Fachbegriff für Nägelbeißen. Es kann sich bei ihr um einen harmlosen Ausdruck von Verlegenheit, aber auch um ein Symptom für eine Verhaltensstörung handeln.

Die Angewohnheit beginnt oft im Kindergartenalter und endet häufig in der Pubertät. Christian Popow, der bis vor kurzem die Ambulanz für Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter am Wiener AKH leitete und gerade in Pension gegangen ist, geht davon aus, dass viele aufhören, wenn der soziale Druck, gepflegt auszusehen, wächst. Doch nicht alle werden die Angewohnheit im Teenageralter los.

Mit Handschuhen in die Arbeit

"Rund ein Viertel der Bevölkerung kaut so regelmäßig, dass die Betroffenen das eigene Nägelbeißen als problematisch empfinden", erklärt der Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde. Eine psychische Erkrankung stecke aber in den wenigsten Fällen dahinter. "Behandlungsbedürftig ist Onychophagie, wenn das Kauen Schmerzen verursacht."

Die Grenze zur psychischen Erkrankung als möglicher Ursache zieht Popow bei der Selbstverletzung: "Das geht in extremen Fällen bis dahin, dass Patienten ihre Nägel bewusst einreißen oder anheben, wodurch Verletzungen und Infektionen des Nagelbettes entstehen können." Andere Komplikationen, die aber selten seien: "In Einzelfällen bekommen Zähne durch das Schnappen Risse, oder ein Nagelstück bohrt sich ins Zahnfleisch."

Siegfried Kasper, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien, sieht das ähnlich: "Wenn ein Mensch viel Zeit und Energie hineinsteckt, um das Nägelbeißen abzustellen, und es ihn im Alltag behindert, ist es krankhaft, etwa dann, wenn man sich nur mehr mit Handschuhen oder bedeckten Händen in die Arbeit traut, weil die Nägel so scheußlich aussehen, dass andere draufstarren." Die krankhafte Form des Nägelbeißens sei aber so selten wie die Trichotillomanie, ebenfalls eine Störung der Impulskontrolle, bei der sich Betroffene in Stresssituationen die Haare ausrupfen. Sie betrifft rund ein Prozent der Bevölkerung.

Nicht ratsam: Nageltinkturen und Kunstnägel

Schamgefühle, weil die abgenagten Nägel unschön aussehen, eint die meisten Betroffenen – wie gleichermaßen auch die Wut darüber, die Angewohnheit nicht loszuwerden. Manche beschreiben das Kauen als zwanghaft. Es tritt unfreiwillig vor allem dann auf, wenn Betroffene gestresst sind, nervös oder ängstlich, etwa vor Prüfungssituationen. "Bei Stress versuchen wir, die Anspannung abzubauen." Als Alternative, die kurzzeitig Befriedigung verschafft, kauen manche an den Nägeln.

Einen wirklichen Vorteil bringt das naturgemäß nicht – "das Nägelbeißen ist eine Leerlaufhandlung", erklärt Psychiater Siegfried Kasper. "Jeder hat seine eigenen Mittel und Wege, mit Stress oder Verlegenheit umzugehen. Die einen knacken mit den Händen, drehen an den Haaren, wippen mit den Füßen oder stecken sich eine Zigarette an. Andere kauen Nägel", erläutert Popow. Dass sie es wieder getan haben, merken Betroffene oft erst, wenn es schmerzt.

Von bitteren oder scharfen Nageltinkturen als Therapie, wie sie Apotheken anbieten, hält Popow wenig: "Sie bekämpfen nur die Symptome, den Kauf kann man sich sparen." Auch Kunstnägel aufzukleben, sich die Nägel dick zu lackieren oder sie quasi als eine Art Ansporn maniküren zu lassen, helfe längerfristig nicht. "Diese Art von Vermeidungsverhalten beflügelt die Fantasie, und zwar in Richtung: Wie könnte man das Nägelbeißen trotzdem schaffen?"

Symptome einer Zwangsstörung

Bewährt habe sich für Nägelbeißer und -beißerinnen Verhaltenstherapie, besonders die Methode des sogenannten "Habit Reversal Training". Dabei ergründen Betroffenen, in welchen Situationen und aus welchen Gründen einem das Nägelkauen in den Sinn kommt.

In einem nächsten Schritt wird mit einem Therapeuten eine Ersatzhandlung ausgearbeitet. Das kann das Ballen der Hände zu einer Faust sein, auch mit einem Kugelschreiber zu spielen kann eine Option sein, wenn die Gefahr bestehen könnte, die Finger in den Mund zu nehmen. Im dritten Schritt werden die Vorteile des Aufhörens verinnerlicht. Zum Abschluss geht es darum, die Ersatzhandlungen im Geiste zu üben. Eine bis fünf Therapiestunden würden in der Regel ausreichen, um die lästige Angewohnheit zu verlernen, so Popow.

Nur wenn Nägelkauen das Symptom einer psychischen Erkrankung ist, wird eine langfristige, möglicherweise medikamentös begleitete Therapie notwendig, ergänzt Psychiater Kasper. Wie die Diagnose gestellt wird? Durch Gespräche. Manche Patienten wiesen zusätzlich zur Onychophagie auch andere Symptome einer Zwangsstörung auf, wie etwa Zwangsgedanken oder aber auch einen Reinlichkeitszwang."

Sich selbst belohnen

Da Kinder auch Anspannungen durch Mobbing oder eine Trennung der Eltern durchs Nägelbeißen zum Ausdruck bringen können, beziehen Ärzte häufig das psychosoziale Umfeld stärker in die Therapie mit ein als bei Erwachsenen.

Erfolgversprechend sind für Popow Belohnungsstrategien: "Dabei legt man eine gewisse Zeit fest, in der man die Finger nicht in den Mund nimmt: eine Viertelstunde, eine Stunde, einen Tag. Bei Erfolg gibt es eine Belohnung, etwa eine Süßigkeit oder einen Gutpunkt – und bei zehn Gutpunkten gibt es dann einen Kinobesuch." Soziale Ächtung hingegen könne zwar Druck aufbauen, das Nägelkauen aber auch in die Heimlichkeit verdrängen. (Sandra Nigischer, 26.6.2016)