Wien – Am Ende des Konzerts, nach drei Zugaben, gab es stehenden Beifall vom gesamten Publikum im Großen Musikvereinssaal. Phänomenal. Aber warum nur? Ist es sein Alter? Seit 1961 ist er regelmäßig im Musikverein zu Gast – seit einer Zeit also, als der Langzeitchef des Hauses, Thomas Angyan, noch die Volksschule besuchte und wahrscheinlich noch nicht einmal träumte von einer Karriere in Hansens Prunkbau. Ist es der Name? Maurizio Pollini: Das klingt doch ausgesprochen wie ein halbe italienische Arie.

Seine Interpretationen können es nicht sein: Die sind schon seit Jahren durchschnittlich, verwechselbar. Nach Schönbergs angenehm selbstverständlich erzählten Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 folgten Samstagabend zwei Werke Robert Schumanns: Beim Allegro für Klavier in h-Moll op. 8 bot der Italiener matte Crescendi und mühsame Läufe. Blasse Emotionen, lieblose Übergänge und wenig prägnant gezeichnete Themen folgten im Kopfsatz der C-Dur-Fantasie op. 17. Im zweiten Satz wurde eine gleichförmige, platte Euphorie ausgestellt.

Klangbandwurm

Bei den nach der Pause folgenden Werken Chopins scheute Pollini dynamische Extreme: Ein Pianissimo gab es bei ihm fast nie zu hören. In den vier Nocturnes (op.55 Nr. 1 und 2; op. 62 Nr.1 und 2) gab es im gedimmten Saal hell ausgeleuchtete Gefühlswelten mit kräftig ausgesungenen Melodiestimmen und handfesten Leidenschaften. Im h-Moll-Scherzo wurde die hochnervöse Raserei des ersten Themas bei Pollini zu einem unendlichen, pedalgetränkten Klangbandwurm; dem H-Dur-Mittelteil fehlte es an Ruhe und Zartheit.

Pollini ist kein Virtuose – das muss man mit 74 Jahren auch nicht mehr sein. Aber etwas Unverwechselbares müsste doch da sein: Spielwitz, Klangzauber, Weisheit. Pollinis Kollegin Martha Argerich (75) bietet in ihren Interpretationen Frische, herbe Angriffslust und auch Subtilität; Daniel Barenboim (73) gelingen immer wieder spontane Genieblitze. Bei Pollini ist da nur wenig von alldem, auch nicht viel anderes.

Das Bemerkenswerteste sind der Beifall und die vielen Bravos am Ende. Man muss so einen rätselhaften Fall wohl ein Phänomen nennen: das Phänomen Pollini. (Stefan Ender, 12.6.2016)