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"Daddy 100": Väter und Fußball spielen an diesem Wochenende die tragende Rolle, im Bild (links): Kai, der Sohn von Wayne Rooney beim Einmarschieren aufs Spielfeld, an der Hand seines Vaters.

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Etgar Keret
Die sieben guten Jahre

Mein Leben als Vater und Sohn
Aus dem Englischen von Daniel Kehlmann
S.-Fischer-Verlag 2016
223 Seiten, 19,99 Euro

Foto: S. Fischer

Wenn in Israel wegen Raketenalarms die Sirenen ertönen, dann sind die Leute angehalten, ihre Autos zu verlassen und sich flach auf den Boden zu legen. Bei der Familie Keret sieht das so aus: Sie legt sich übereinander. Unten liegt die Ehefrau, in der Mitte der Junge, der siebenjährige Lev, oben der Vater, der notdürftig versucht, sich so weit abzustützen, dass er seine Liebsten nicht erdrückt. Das Ganze nennt sich Pastrami-Sandwich, es stellt so etwas wie eine pädagogische Skulptur dar. Denn Lev ist in einem Alter, in dem er nicht einfach tut, was man ihm sagt. Man muss es ihm erklären oder anderswie einleuchtend machen. Das Pastrami-Sandwich findet er so überzeugend, dass er es sogar ohne Raketen machen würde. Der Vater aber denkt schon einen Schritt weiter. Wenn es einmal langweilig wird mit dem Pastrami, dann gibt es immer noch Grillkäse.

Ein zentrales Dokument

Der Vater, das ist Etgar Keret, ein sehr erfolgreicher israelischer Schriftsteller und Filmemacher (Jellyfish). Seine Erfahrungen mit Lev hat er nun aufgeschrieben: Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn ist nicht einfach eine Sammlung von Notizen, in denen ein Vater staunend dabei mitschreibt, wie aus einem Baby ein Junge wird. Man kann dieses schmale Buch, das aus kurzen Episoden besteht, als ein zentrales Dokument der "zweiten Generation" lesen.

Etgar Keret, geboren 1967 in Ramat Gan, ist der Sohn einer Frau, die als Kind das Warschauer Ghetto überlebte. Sein Vater ist 83 Jahre alt, als Lev sieben ist. Der Vater stirbt an einem Krebs, der die Zunge befällt, und dem er trotz schlechter Prognose noch ein wenig Zeit abgetrotzt hat, Zeit, die der Sohn häufig auf Lesereisen verbringt, die ihn zum Beispiel nach Warschau führen, wo eine Frau ihn anspricht, die ihm unbedingt Marmelade geben möchte. Vor vielen Jahren hatte die Mutter dieser Frau zwei jüdischen Mädchen zwei Marmeladenbrote mit auf den Weg ins Ghetto gegeben. "Sie haben die Brote genommen und ihr gedankt, und sie hat sie nie wieder gesehen." Die Marmelade, die Etgar Keret jetzt bekommt, schmeckt "süß vor Großzügigkeit und sauer von den Erinnerungen".

Mit federleichter Geste

Diese Formulierung könnte man gut auch auf das Buch anwenden, in dem sie zu finden ist. Sauer ist es nicht nur von Erinnerungen, sondern weil es aus einem Leben kommt, das vom Tod umgeben ist: Terrorgefahr in Israel, das Erbe der Shoah, Geschichten aus den Kriegen, die Israel führt. Das alles führt Etgar Keret mit federleichter Geste zusammen.

Zum Beispiel in einer Geschichte, in der er sich, weil Lev es sich so wünscht, einen Schnurrbart wachsen lässt. "Die Assoziationen, die ein Schnurrbart hervorruft, sind mehr nach Art von Shaft, Burt Reynolds, deutschen Pornostars, Omar Sharif und Bashar al-Assad – kurz, die Siebzigerjahre und Araber."

Dann biegt die Geschichte aber ab, weil ein Akupunkteur, der Kerets Rücken behandelt, von einem Einsatz in einer Eliteeinheit der israelischen Armee im Libanon erzählt, bei dem er sich als Araber tarnen musste, indem er sich – na klar – einen Schnurrbart ins Gesicht malte. Damals wäre um ein Haar ein Hirte erschossen worden, der einen Regenschirm trug, der aus der Ferne mit einer Kalaschnikow verwechselbar war. "Die Wirklichkeit, so wie sie ist, ist verwirrend genug", und davon legt Kerets Buch Die sieben guten Jahre auf immer wieder wunderbar pointierte Weise Zeugnis ab.

Waffen in kleinen, rosa Händen

Meine Lieblingsgeschichte ist die, in der Keret auf dem Spielplatz mit der Frage konfrontiert wird, ob der zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alte Lev einmal in die Armee gehen wird. (Die Alternative, das bleibt hier beziehungsreich unerwähnt, wäre Wehrdienstverweigerung oder Fundamentalismus.) Die Frage stößt ihn "in eine andere, surreale Welt, in der ich Dutzende robuste Babys sah, gehüllt in umweltfreundliche Stoffwindeln, die auf winzigen Ponys die Berge heruntergaloppierten und mit ihren kleinen rosa Händen Waffen schwangen und mörderische Schlachtrufe ausstießen".

Keret denkt also eher an einen Western als an den Jom-Kippur-Krieg. Aber seine Fantasie geht eben immer eigene Wege. Der Bobo-Frage, die sich jetzt schon nach Sicherheit für den kleinen Sohn in 15 Jahren sehnt, stellt er eine brillante Antwort entgegen: "Wir würden uns bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr darum bemühen, entweder in der Region oder in unserer Familie Frieden zu schaffen."

Klassisches Dilemma

Entweder in der Region oder in der Familie. Dieses klassische Dilemma aller Friedensbewegungen (fange bei mir an!) löst Keret häufig am Beispiel von Streitigkeiten mit seiner Frau, die manchmal wie die "schlechteste Ehefrau von allen" erscheinen könnte. Die beste Ehefrau von allen ist aber auch nicht mehr frei, sie war mit Ephraim Kishon verheiratet, der Keret bei seinen Geschichten wohl ein wenig Pate stand.

Aber auch Shira erweist sich letztlich in ihrem Verzicht auf naiven Idealismus als entscheidender Bestandteil einer Familie, die eben nur als Sandwich so richtig funktioniert. Anders überlebt man "einen endlosen Krieg, der unmerklich Teil der Kindheitslandschaft meines kleinen Sohns wurde", wahrscheinlich nicht. (Bert Rebhandl, 11.6.2016)