Radikale Poesie und politische Haltung: René Char.

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René Char, "Suche nach Grund und Gipfel", deutsch von Manfred Bauschulte, € 22,90 / 224 Seiten, Klever, Wien 2016.

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Der 1907 in L'Isle-sur-la- Sorgue geborene René Char war Poet, Denker und Partisan. Nach einer Begegnung mit André Breton und Paul Éluard einige Jahre Mitglied der Surrealisten in Paris, ging er nach der Eroberung Frankreichs durch Nazideutschland 1940 mit der Frau von Tristan Tzara, der schwedischen Malerin Greta Knutson, zurück in seine provenzalische Heimat und führte als "Capitain Alexandre" eine Widerstandsgruppe.

In diesen Jahren versuchte er der Poesie zu entsagen, dennoch entstanden Notizen, Aphorismen und Prosagedichte. Diese Aufzeichnungen aus dem Maquis wurden von seinem Freund Albert Camus, der Char für den größten Dichter Frankreichs seit Apollinaire hielt, unter dem Titel Hypnos herausgegeben; von Paul Celan ins Deutsche übertragen, erschienen sie das erste Mal 1959.

Armut und Betrüger

Jahre nach dem Erscheinen von Hypnos stellt Char selbst ein Buch zusammen, das 1971 bei Gallimard unter dem Titel Recherche de la base et du sommet erscheint. Viele der Aufzeichnungen, Briefe, Klappentexte, Hommagen und Gedichte schließen in Thematik und Form direkt an diese prägenden Jahre im Untergrund an.

Für das erste Kapitel wählt er den Titel "Armut und Vorrecht", das er mit folgender Widmung einleitet: "Armut und Vorrecht ist all den Enttäuschten gewidmet, die schweigen und trotz einiger Rückschläge nicht restlos handlungsunfähig geworden sind. Sie sind die Brücke. Standhaft vor der entfesselten Meute der Betrüger, über der Leere und nahe der gemeinsamen Erde sehen sie den letzten und melden den ersten Strahl. Etwas, das herrschte, wankte und verging, müsste in seinem Wiedererscheinen dem Leben dienen – unserem Leben aus Ernten und Wüsten, das sich in seiner unbegrenzten Fülle zeigt."

Tat statt Unentschlossenheit

Er, der nicht ins Paris der Kollaborateure und Unentschlossenen zurückgekehrt ist, hat sich zur Tat entschlossen: "Nur mühsam kann ich mich auf die selbst gewählte Ferne einstellen, ich bin hier noch zu nah am Kommen und Gehen der Gestalten, die an sich selbst und den Dingen resigniert haben. Gewiss, man muss Gedichte schreiben, mit schweigender Tinte den Zorn und das Schluchzen unserer tödlichen Stimmung aufzeichnen, dabei aber darf es nicht bleiben."

Seine Analyse der politischen Lage 1943 ist eine weitreichende, grundsätzliche: Er kritisiert nicht nur Nazideutschland, sondern auch die Kollaborateure, die sich den Siegern anbiedern, sowie das koloniale Frankreich, das in Algerien und Marokko ausbeutet, unterdrückt und für seine Armee rekrutiert: "Es drückt mich nieder (...), dass man in dieser enthaupteten Nation, und zwar durch uneinige Strömungen, gefolgt von schwächlichen und ziemlich gutgläubigen Kräften – einmal abgesehen von der Niederschlagung der Arbeitskämpfe und den grausamen Kolonialexpeditionen, vom Dolch, den der Klassenhass und die ewige Habgier regelmäßig ins Fleisch der zuvor Ausgestoßenen stechen – so viele denkende Individuen zählen konnte, die fröhlich nach der Pfeife der Folterknechte tanzten und sich von ihnen anwerben ließen."

Ernst und Erfahrung

Der Sprache Chars wohnen ein existenzieller Ernst sowie eine Entschlossenheit und Erfahrung inne, die jeder Sondierung standhalten. Die in ihr entwickelten Gedanken und Bilder sind zutiefst empfunden und resultieren nicht zuletzt aus der Verantwortung und Todesbereitschaft, die seine Widerstandstätigkeit gegen die deutschen Besatzer unweigerlich mit sich gebracht hat.

Dies ist die eine, für Leser seiner Lyrik vielleicht unbekannte Seite René Chars. Das Buch versammelt des Weiteren Texte über bildende Künstler und Kollegen, über "Bundesgenossen" wie George Braque, Victor Brauner, Joan Miró, Francis Picabia und "große Aszendenten" wie René Crevel, Paul Éluard und Arthur Rimbaud sowie ein Gedicht für Antonin Artaud, das mit einem etwas pathetischen Understatement beginnt: "Es fehlt mir die Stimme, um dein Lob zu singen, großer Bruder." Char war einer der wenigen, die sich für den in einer psychiatrischen Anstalt festgehaltenen Schauspieler, Dichter, Zeichner und von einem unheilbaren Dauerschmerz gequälten Grenzgänger eingesetzt haben.

Poesie wider Banalitäten

Das letzte Kapitel umfasst Aphorismen und poetische Sentenzen wie "Das Wesentliche wird unablässig vom Bedeutungslosen bedroht. Niederer Kreislauf." Wer sich Chars Sprache hingibt, wird erkennen, welch Banalitäten heute reüssieren. Chars radikale Poesie, sein stetes Überprüfen sprachlicher Mittel und seine politische Haltung sind ein Lichtblick, auf den wir nicht verzichten sollten. Char fühlte sich weder durch die strengen Forderungen des Intellekts beengt, noch von jenen Herausforderungen, die Mitleid und Mitgefühl mit sich bringen.

Dass dieser bedeutende Band nun in deutscher Übersetzung vorliegt, ist dem Klever-Verlag zu verdanken, der sich der seit Jahren fertigen Übersetzung von Manfred Bauschulte angenommen hat. Der Universalist Bauschulte hat zudem ein kenntnisreiches Glossar zu den Personen und Plätzen zusammengestellt, hilfreich nicht nur für den Einsteiger in den poetischen Kosmos von René Char. (Richard Wall, 12.6.2016)