Straßburg – Nach den Drohungen gegen deutsche Abgeordnete hat der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan ungewöhnlich scharf kritisiert.

"Parlamentarier, die sich im Rahmen ihres Mandats positionieren, dürfen unbeschadet etwaiger Meinungsverschiedenheiten in einer politischen Frage keinesfalls in die Nähe von Terroristen gerückt werden", heißt es in einem Brief des deutschen Sozialdemokraten an Erdogan, aus dem Spiegel-Online am Donnerstag Auszüge veröffentlichte.

"Entscheidender Grundpfeiler"

Er habe "mit großer Sorge" Berichte zur Kenntnis genommen, nach denen Erdogan Bundestagsabgeordnete wegen ihres Abstimmungsverhaltens verbal angegriffen hat, schreibt Schulz. "Ein solches Vorgehen stellt einen absoluten Tabubruch dar, den ich aufs Schärfste verurteile." Die freie Mandatsausübung von Abgeordneten sei ein "entscheidender Grundpfeiler unserer europäischen Demokratien".

Hintergrund ist die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages, die von Erdogan wiederholt scharf kritisiert wurde. Darin werden die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915 als Völkermord eingestuft. Erdogan hatte türkischstämmige Abgeordnete im Bundestag, die für diese Resolution gestimmt haben, als verlängerten Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK bezeichnet, deren türkische Herkunft angezweifelt und sogar einen Bluttest gefordert.

"Charakterlos"

Erdogan griff unterdessen den deutschen Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir erneut scharf an. Er warf Özdemir vor, "charakterlos" zu sein, ohne den Grünen-Chef beim Namen zu nennen. In einer Ansprache vor Dorfvorstehern am Mittwochabend in Ankara umschrieb der Staatschef den türkischstämmigen Özdemir als "den Mann, der in Deutschland sein eigenes Land des Völkermordes beschuldigt und bei so einer Entscheidung die führende Rolle spielt".

Erdogan fügte hinzu: "Ich frage, was ist er, wenn nicht charakterlos?" Özdemir gehörte zu den Initiatoren der Bundestagsresolution zu den Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich.

Erdogan verwendete wie schon zuvor einen Begriff ("kani bozuk"), der sowohl als "charakterlos" als auch als "verdorbenes Blut" übersetzt werden kann. Der Präsident betonte am Mittwochabend, er habe den Begriff nicht in seiner biologischen Variante und vor allem nicht rassistisch verwendet. "In unserer Kultur bezieht sich der Begriff 'kani bozuk' auf den Charakter." (APA, 9.6.2016)