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Am Wahltag interessiert viele Menschen nicht nur, wie das Wahlergebnis genau ausgefallen ist, sondern auch, welche Erklärungen es dafür gibt. Neben dem Was bewegt uns auch das Warum. Gut also, dass schon kurz nach der ersten Hochrechnung verlässlich Analytiker bereitstehen und auf der Grundlage von Wahltagsbefragungen Auskunft über Motive und Ursachen geben.

Vieles an diesen Analysen ist sehr brauchbar, anderes taugt methodisch eher wenig. In diesem Beitrag möchte ich ein paar sachdienliche Hinweise für das politisch interessierte Publikum geben – eine Gebrauchsanweisung für Wahlanalysen quasi.

Regel 1: Direkte Fragen nach Wahlmotiven sind (meist) sinnlos

Eine wichtige Grundregel in der quantitativen Sozialforschung lautet, dass man Befragten die Forschungsfrage nicht direkt stellen soll. Die meisten Menschen sind nämlich sehr schlecht darin, die tatsächlichen Ursachen für ihr Verhalten zu benennen, und sehr gut darin, einmal gefällte Entscheidungen im Nachhinein zu rationalisieren.

Eine gute Veranschaulichung dieses Problems sind etwa Fragen im Format "Wie wichtig war das Thema Flüchtlinge für ihre Wahlentscheidung?". Diese Frage ist extrem anfällig dafür, dass Befragte von ihrer Wahlentscheidung ausgehend die Wichtigkeit des Themas rationalisieren (also etwa höher bewerten, wenn sie der Auffassung sind, das "passe" zu ihrer Parteipräferenz). Wer tatsächlich den Einfluss von Themen auf die Wahlentscheidung erkunden will, muss sein Vorgehen in drei Schritte zerlegen:

1. Man erhebt, wie wichtig jeder und jede Befragte das Thema findet.

2. Man erhebt, welche Partei die Befragten gewählt haben.

3. Man stellt statistisch fest, ob zwischen der subjektiven Wichtigkeit des Themas und der Entscheidung für eine bestimmte Partei ein Zusammenhang besteht.

Ähnliche Fragestellungen wie oben skizziert gibt es immer wieder: Hat der Spitzenkandidat X Ihre Wahlentscheidung beeinflusst? Wie wichtig war es für Ihre Entscheidung, Partei/Kandidat/Koalition X zu verhindern? Hat die hohe Arbeitslosigkeit es wahrscheinlicher gemacht, dass Sie Partei X wählen? Allen derartigen Fragen sollten wir wenig Gewicht beimessen.

Regel 2: Sinnvoll sind Analysen, die den Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen zeigen

Weit besser als direkte Fragen nach Motiven sind Auswertungen, die zeigen, wie sich Wähler einer Partei von jenen einer anderen Partei unterscheiden (beziehungsweise wie Wählergruppen mit unterschiedlichen Charakteristika oder Einstellungen jeweils gewählt haben).

Nehmen wir als Beispiel den Zusammenhang von Geschlecht und Parteipräferenz. Hier wird schnell deutlich, wie absurd die oben diskutierte Herangehensweise ist. Die Frage "Welchen Einfluss hatte Ihr Geschlecht auf Ihre Wahlentscheidung?" würde von den meisten Befragten zu Recht als unsinnig empfunden werden.

Wenn man dieser Frage also auf den Grund gehen möchte, muss man einfach das Wahlverhalten nach Geschlecht auswerten. Je größer die Unterschiede in den Parteipräferenzen von Frauen und Männern, desto stärker ist der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Wahlentscheidung.

Die Stärke des Zusammenhangs ist aber nicht das Ende der Geschichte – uns interessiert ja auch, warum Frauen und Männer unterschiedlich wählen. Hier wird die Angelegenheit etwas schwieriger. Wasserdichte kausale Erklärungen können wir mit konventionellen Umfragedaten praktisch nie liefern.

Aber wir können uns den Ursachen für den Gender Gap im Wahlverhalten zumindest nähern. Wenn man etwa ein statistisches Modell für den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Parteipräferenz erstellt, zeigt sich, dass der Gender-Effekt in Österreich oft verschwindet, wenn man weitere Variablen in das Modell aufnimmt (siehe Beispiel weiter unten).

Regen 3: Alles hängt mit (fast) allem zusammen

Die soziale Welt ist komplex – viele Phänomene stehen miteinander in Zusammenhang: Geschlecht korreliert mit Religiosität (Frauen sind religiöser), Religiosität korreliert mit dem Wohnort (Städter sind weniger religiös), der Wohnort korreliert mit formaler Bildung (auf dem Land gibt es weniger Akademiker), Bildung korreliert mit dem Erwerbsstatus (Arbeiter haben niedrigere formale Bildung), der Erwerbsstatus korreliert mit Gewerkschaftsmitgliedschaft (Selbstständige und Bauern sind selten beim ÖGB), und Gewerkschaftsmitgliedschaft korreliert wiederum mit dem Geschlecht (zwei von drei Gewerkschaftsmitgliedern sind Männer).

Diese Kette von Korrelationen ließe sich beliebig fortsetzen – eine Tatsache, die uns die Arbeit in den Sozialwissenschaften enorm erschwert. Wenn ich etwa einen Zusammenhang zwischen Wahlverhalten und Geschlecht feststelle, könnte der nämlich auch durch Geschlechterunterschiede bei vielen anderen Variablen (Religiosität, Einkommen, Gewerkschaftsmitgliedschaft …) zustande kommen.

Im Idealfall kann man alle relevanten Variablen erfassen und in die statistischen Erklärungsmodelle einbauen. So lässt sich feststellen, ob etwa Geschlechterunterschiede im Wahlverhalten nach Kontrolle für alle möglichen anderen Einflussfaktoren noch bestehen. Je robuster ein statistischer Zusammenhang selbst nach Berücksichtigung all dieser Drittvariablen ist, desto mehr Gewicht sollten wir ihm beimessen.

Die Grafik unten veranschaulicht diese Vorgangsweise. Dargestellt wird die relative Wahrscheinlichkeit (also im Vergleich zu Männern), dass Frauen die FPÖ wählen (sogenannte Odds Ratios). Wenn man nur die Geschlechtsvariable allein betrachtet (links in der Grafik), haben Frauen eine um etwa 40 Prozent (der Abstand zwischen dem Punkt und der dicken grauen Linie) geringere Wahrscheinlichkeit als Männer, die FPÖ zu wählen. Auch hier gibt es eine Schwankungsbreite um diesen Wert, die durch die senkrechten Linien dargestellt wird.

Nach Berücksichtigung von Religiosität sowie Einstellung zu EU und Zuwanderung (in der Mitte der Grafik) ist die relative Wahrscheinlichkeit der FPÖ-Wahl für Frauen nur mehr um 28 Prozent geringer. Die Schwankungsbreite schließt hier schon 100 Prozent ein, somit lässt sich statistisch kein signifikanter Unterschied mehr zwischen Frauen und Männern feststellen. Ein guter Teil der Geschlechterunterschiede bei der Wahl der FPÖ lässt sich also dadurch erklären, dass Frauen religiöser, proeuropäischer und weniger zuwanderungsskeptisch sind.

Wenn man dazu noch für Bildung, Gewerkschaftsmitgliedschaft und Erwerbsstatus kontrolliert (rechts in der Grafik), werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern noch einmal geringer. Die relative Wahrscheinlichkeit der FPÖ-Wahl liegt für Frauen dann um nur mehr 22 Prozent unter jener der Männer – mit einer relativ großen Schwankungsbreite, sodass ein statistisch signifikanter Geschlechterunterschied nicht mehr vorhanden ist.

Dadurch, dass in der Wählerschaft viele soziale Merkmale miteinander korrelieren, können wir nur durch komplexere statistische Analysen feststellen, welche Zusammenhänge robust sind und welche nur an der Oberfläche bestehen.

Anders ausgedrückt: Wenn Arbeiter anders als Angestellte wählen, könnte das auch mit Bildungsunterschieden zu erklären sein. Wenn Gewerkschaftsmitglieder anders wählen als Nichtmitglieder, könnte das an der schiefen Geschlechterverteilung unter ÖGB-Mitgliedern liegen. Wenn religiöse Menschen anders wählen als nichtreligiöse, könnten dahinter Stadt-Land-Effekte oder Altersunterschiede stecken.

Um dieses Problem zu lösen, muss man weit über das Terrain hinausgehen, das sinnvollerweise in Wahlanalysen in Massenmedien beackert werden kann. Wichtig ist aber dennoch, dass wir kritisch fragen, wodurch Unterschiede, die wir in Wahlanalysen zwischen bestimmten sozialen Gruppen vorfinden, zustande kommen können. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 9.6.2016)