"Brexit? Das ist verrückt" und "Schluss mit den Lügen", fordern diese jungen Demonstranten in der mittelenglischen Stadt York. Sie treten für einen Verbleib in der EU ein.

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Der Schriftsteller und Bergschäfer James Rebanks in Nordengland.

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STANDARD: Wie erleben Sie die öffentliche Diskussion über Großbritanniens EU-Verbleib?

Rebanks: Wenn ich ganz ehrlich bin: So genau verfolge ich die Debatte nicht. Und ich glaube, es gibt ganz viele wie mich. Ich sehe gute Argumente auf beiden Seiten. Aber die Leute, die sie vorbringen, törnen mich ab. Ich träume davon, dass unser Land bessere, fortschrittlichere Politik machen könnte außerhalb der EU und ihres neoliberalen Konsenses. Aber dann schaue ich mir an, welche Leute das Land nach einem Brexit regieren würden: noch rechtere Tories als bisher. Ich bin also ein apathischer Proeuropäer.

STANDARD: Ihre Heimat, die Gebirgs- und Seenlandschaft des Lake District, ist den Umfragen zufolge eine der EU-feindlichsten Gegenden des Landes. Wie kommt das?

Rebanks: Das frage ich mich auch. Weder haben wir hohe Arbeitslosigkeit noch massenhafte Einwanderung aus Osteuropa. Es hat wohl mit einem tief sitzenden Misstrauen gegenüber jeglicher Regierung zu tun. Gäbe es ein Referendum über unsere Regierung in Westminster, fiele das Ergebnis wahrscheinlich ähnlich aus.

STANDARD: Die EU-Feinde sprechen stets von "ungewählten Bürokraten in Brüssel". Dabei ist die britische Bürokratie berühmt dafür, die Vorschriften aus Brüssel noch zu verschlimmbessern.

Rebanks: Bei uns kümmert sich meine Mutter um den Papierkram. Neulich haben wir nachgerechnet: Das nimmt etwa 35 Arbeitstage pro Jahr in Anspruch. Aber die meisten Formulare und Vorschriften kommen von britischen Behörden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Brexit den Papierkrieg für uns Landwirte wesentlich verringern würde.

STANDARD: Diese Sichtweise kommt in der Debatte nicht vor.

Rebanks: Die Argumentation des Brexit-Camps ist geschickt. Möglichst wenig Regierung – wenn überhaupt, dann die im eigenen Land. Das kommt bei den Leuten an. Wie gesagt: Westminster genießt auch kein Ansehen. Die Menschen hier sehen das Referendum als Gelegenheit, eine Schicht von Leuten loszuwerden, die ihnen das Leben schwermachen.

STANDARD: Erleben Sie die EU-Skepsis im täglichen Leben?

Rebanks: Na sicher, wenn ich mit Nachbarn rede oder im Pub bin. Wobei mich oft Leute auf der Straße anhalten und sagen: "Ich weiß gar nicht, was ich machen soll, es ist alles sehr verwirrend." Ich glaube schon, dass die Leute wirklich verunsichert sind. Zumal beide Seiten dauernd mit Horrorstorys operieren. Die Konfusion spüre ich am eigenen Leib.

STANDARD: Machen Sie Bekehrungsversuche?

Rebanks: Ach nein, das ist nicht mein Ding. Ich fühle mich selbst hin- und hergerissen. Erstaunlich finde ich die Feindseligkeit gegenüber Brüssel selbst von Leuten, deren gesamte Existenz auf den Zahlungen aus dem gemeinsamen Agrarhaushalt aufgebaut ist.

STANDARD: Haben sie unterbewusst vielleicht ein schlechtes Gewissen, weil sie von Subventionen leben?

Rebanks: Ach, das will ich nicht sagen. Die Politik ist sehr stark von Konsumenten geprägt, die immer billigere Nahrungsmittel fordern. Weniger als ein Prozent der britischen Erwerbstätigen arbeiten in der Landwirtschaft. Ich fühle mich stärker in der Solidarität mit Bauern aus Deutschland, Frankreich und Italien. Kämpfen wir allein gegen die Interessen der Einzelhändler und Konsumenten, stehen wir auf verlorenem Posten.

STANDARD: Wovor haben die Leute in Ihrem Umfeld Angst?

Rebanks: Viele schauen auf die Eurozone und griechische Schuldenkrise und sagen: "Das bricht früher oder später zusammen. Wir kommen auch allein zurecht."

STANDARD: Finden Sie diesen Gedanken attraktiv?

Rebanks: Auf jeden Fall. Die Eigenverantwortung in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten hat für mich und unseren Berufsstand einen hohen Wert. Aber wir dürfen nicht vergessen: Es ist ein sehr alter, hochgefährdeter Berufsstand am Rand der modernen Industriegesellschaft. Wer alte Traditionen, hergebrachte Lebensweisen unwichtig findet, denkt anders. Deshalb gibt es in der Finanzindustrie so viele, die sich für den Brexit einsetzen.

STANDARD: Viele Sprecher der City of London warnen eher davor.

Rebanks: Aber es gibt auch Banker und Hedgefonds-Manager, die von London als Offshore-Zentrum träumen. Wir könnten bestimmt sehr effektiv Hongkong am Rand Europas darstellen, mit Niedrigsteuern und wenig Regulierung.

STANDARD: Und über die positiven Aspekte Europas wird gar nicht gesprochen?

Rebanks: Zu wenig. Ich selbst sehe in der Sozial- und Umweltpolitik viel Gutes, das aus Europa kommt, beeinflusst von Deutschland und den skandinavischen Ländern. Es scheint mir auch in der Wirtschaftspolitik fortschrittlicher zuzugehen. Aber ich interessiere mich für diese Themen und setze mich damit auseinander. Für die meisten hier ist Europa weit weg.

STANDARD: Markiert die Debatte einen neuen Nationalismus?

Rebanks: Das höre ich überhaupt nicht heraus. Eher scheinen mir die EU-Gegner von neoliberalem Internationalismus geprägt zu sein, nach dem Motto: Wir handeln mit der Welt, schaffen möglichst viele Barrieren ab, kümmern uns weniger um andere.

STANDARD: Also eine Rückbesinnung auf den Liberalismus des 19. Jahrhunderts? Laut Lord Palmerston hatte Großbritannien damals "permanente Interessen, aber keine dauerhaften Verbündeten".

Rebanks: In diese Richtung scheint mir das zu gehen. (Sebastian Borger aus Matterdale, 9.6.2016)