Es sei ein Skandal, dass die deutsche Regierung die Vorwürfe des türkischen Präsidenten Erdoğan gegen Bundestagsabgeordnete nicht klar zurückweist, sagt Sevim Dağdelen.

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STANDARD: Laut Recep Tayyip Erdoğan hat Bundeskanzlerin Angela Merkel versprochen, die Armenier-Abstimmung im deutschen Bundestag zu verhindern. Glauben Sie, dass es ein derartiges Versprechen oder auch nur eine vorherige Absprache gegeben hat?

Sevim Dağdelen: Man muss die Aussage von Erdoğan leider ernst nehmen. Zwar verhinderte Merkel die Abstimmung nicht; dafür war auch der Druck aus der eigenen Fraktion zu groß geworden. Aber mit dem Fernbleiben von Merkel, Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier von dieser historischen Abstimmung wurde ganz klar ein beschämendes Signal der Willfährigkeit an den türkischen Präsidenten gesandt. Und ein Signal, das wiederum Erdoğan geradezu ermutigte, mit seiner Hetzjagd auf "türkeistämmige" Abgeordnete des deutschen Bundestags an die Öffentlichkeit zu gehen.

STANDARD: Der türkische Außenminister Cavusoğlu fordert, dass sich die deutsche Bundesregierung von der Resolution des Bundestags distanziert. Trauen Sie Merkel so einen Schritt zu? Die Bundeskanzlerin hat sich ja auch in der Causa Böhmermann telefonisch entschuldigt.

Dağdelen: Das Fernbleiben der Bundeskanzlerin, des Vizekanzlers und des Außenministers kann als Distanzierung im Sinne Cavusoğlus gedeutet werden. Nach den Drohungen von türkischen Regierungsmitgliedern gegen deutsche Abgeordnete hat die Bundesregierung lange geschwiegen. Am Mittwoch erklärte die Bundeskanzlerin, die Vorwürfe seien "nicht nachvollziehbar". Das ist sehr einsilbig, schlicht beschämend. Offenbar ist leider das skandalöse Verhalten der Kanzlerin in der Causa Böhmermann Vorbild. Auch wenn die Kurden in der Türkei oder auch die Kritiker Erdoğans zugrunde gehen, setzt Merkel weiter auf Erdoğan für ihren schäbigen EU-Türkei-Flüchtlingsdeal. Dafür lässt man sogar die Abgeordneten des Bundestags im Regen stehen. Erdoğan hat auch bei seinen faschistischen Drohungen in Richtung Bundestag von dieser Bundesregierung nichts zu befürchten. Das Blut der "türkeistämmigen" Abgeordneten darauf untersuchen zu wollen, ob sie Türken sind, ist schlicht Nazijargon. Damit werden gefährliche Geister gerufen, die die Bundesregierung so leicht nicht mehr loswird.

STANDARD: Wie sahen die Drohungen aus der Türkei gegen die Abgeordneten des Bundestags vor und nach der Armenier-Abstimmung konkret aus?

Dağdelen: Es gab ein wahres propagandistisches Trommelfeuer, unterstützt von der türkischen Regierung oder von dieser mitgesteuert. Wir Abgeordneten wurden geradezu bombardiert mit Massenmails über die "historische Wahrheit" aus türkischer Regierungssicht. Unsere Posteingänge wurden überflutet. Selbst Erdoğan und sein Regierungschef Yıldırım haben sich im Vorfeld wiederholt zu Wort gemeldet. Mal nannten sie die Bundestagsresolution zu den Massakern an den Armeniern im Jahr 1915 "lächerlich", mal "absurd" und voller "ungerechter" Anschuldigungen gegen das Osmanische Reich. Dann war es ein "echter Freundschaftstest für die deutsch-türkischen Beziehungen", und an die Abgeordneten erging der Aufruf aus Ankara, den Antrag abzulehnen.

Rund um die Abstimmung haben mich über Facebook und Twitter üble Beschimpfungen erreicht, "armenische Hure" und "kurdische Terroristin" sind hiervon die harmlosesten. Wer aber als "Terrorist" gebrandmarkt ist, ist zum Abschuss freigegeben. Erdoğan hat gerade erklärt, sein Krieg gegen den Terror werde "bis zur Apokalypse" geführt. Im Netz kursiert seit Tagen ein "Steckbrief" von mir und weiteren Kollegen. Regierungstreue Zeitungen in der Türkei haben Fotos von mir veröffentlicht mit Hinweis auf meine Kinder. Über meine Facebook-Seite wurde mit unverhohlener Freude mitgeteilt, ein reicher Türke in Istanbul habe ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt – wortwörtlich sagte er, "der, der ihr die Kugel erst ins Bein, dann in den Kopf schießt, bekommt 50.000 Euro und noch mal 50.000 Euro für die Familie". Ein anderer riet mir, ich solle "nach Buchenwald Urlaub machen".

Solche Drohungen kommen von türkischen Faschisten und Islamisten sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, orchestriert von Erdoğan und der AKP, die auch über Strukturen in Deutschland verfügt.

STANDARD: Verfolgung von Kritikern und Journalisten, Krieg gegen die Kurden, Botschaftereinbestellungen und die Böhmermann-Affäre – was muss passieren, damit Merkel den deutschen Regierungskurs gegenüber der Türkei ändert?

Dağdelen: Erdoğan hat ganz offensichtlich weiter einen Freibrief. Wie sonst soll man das lange Schweigen von Kanzlerin Merkel zum Nazisprech aus Ankara verstehen. Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung Erdoğans Ausfälle, das Blut der "türkeistämmigen" Abgeordneten des deutschen Bundestags sei verunreinigt und sollte in einem Labor untersucht werden, oder die Denunziation Erdoğans, die Abgeordneten seien der verlängerte Arm einer Terrororganisation, nicht klar und deutlich zurückweist. Es sind genau die Methoden, die Erdoğan gegen kritische Journalisten und Politiker in der Türkei anwendet, um sie einzuschüchtern und für den Mob als Zielscheibe zu markieren. Die Außenpolitik der Bundesregierung mit ihrem Premiumpartner Erdoğan wird jetzt immer mehr zur Belastung und Gefahr für unsere Grundrechte in Deutschland und Europa.

STANDARD: Was muss die EU gegenüber der Türkei ändern, insbesondere bei den Themen Visaerleichterungen und Beitrittsverhandlungen? Welche Möglichkeiten hat Europa, in der Flüchtlingskrise zu handeln, ohne sich Erdoğan auszuliefern?

Dağdelen: Der EU-Türkei-Deal ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung, so wie Erdoğan mit seinem Krieg gegen die Kurden und der Bewaffnung islamistischer Gotteskrieger in Syrien Teil des Problems ist und bleibt. Was die EU mit der Visaliberalisierung vorhat, ist ein offener Rechtsbruch. Neben der Änderung der Antiterrorgesetze ist eine der Voraussetzungen eine unabhängige Justiz. Die EU-Kommission geht offenbar von einer unabhängigen Justiz in der Türkei aus. Um das zu behaupten, muss man entweder ein großer Dummkopf sein oder bereit, jedes Verbrechen Erdoğans zu decken. Unter diesen Umständen und der Kriminalisierung der Opposition, der Verachtung und Missachtung von Menschenrechten, der Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit, darf es keine Visaliberalisierung und Beschleunigung des EU-Beitritts geben. Das würde lediglich die Despotie Erdoğans stärken. Die Beitrittsverhandlungen müssen daher sofort gestoppt werden.

STANDARD: Wie kann die massenweise Überfahrt über das Mittelmeer gestoppt werden?

Dağdelen: Solange die Fluchtursachen nicht tatsächlich und effektiv bekämpft werden, solange die Menschen keine Perspektive auf eine positive Zukunft für sich und ihre Familien in ihren Heimatländern bekommen, werden sie versuchen, diese beispielsweise in der EU zu finden. Dass sie dabei die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wählen, ist, weil die EU keine sicheren und legalen Einreisewege schafft und stattdessen zu Nato-Stacheldrahtzäunen, Mauern, Selbstschussanlagen und militarisierten Abschottungsmaßnahmen greift.

STANDARD: Um den Anreiz für die Überfahrten zu unterbinden, fordert Österreichs Außenminister Kurz Aufnahmezentren zum Beispiel auf Lesbos, eine konsequente Rückführung von Bootsflüchtlingen und zusätzlich Hilfsmaßnahmen direkt in den Krisengebieten. Ist das ein gangbarer Weg?

Dağdelen: Der Vorstoß des österreichischen Außenministers, nach australischem Vorbild Internierungslager auf griechischen Inseln für unerwünschte Flüchtlinge zu errichten, ist kurzsichtig und unmenschlich. Der Anreiz für die Todesfahrten über das Mittelmeer wird allein dadurch unterbunden, dass Anreize für ein menschenwürdiges Leben in den Herkunftsländern geschaffen werden. Das geht nicht von heute auf morgen, ist aber die einzig nachhaltige und menschenfreundliche Perspektive. Die Kungelei mit Despoten wie Erdoğan, vor deren Kriegen und Waffenlieferungen die Menschen fliehen, und die Preisgabe von Grundrechten dürfen keine politische Alternative sein. (Michael Vosatka, 9.6.2016)