Foto: Ilaria Scarpa
Foto: Alessandro Sala per Centrale Fies
Foto: Ilaria Scarpa

Wien – Auf Fotos sieht die Schauspielerin Silvia Calderoni (34) wesentlich dürrer aus als auf der Bühne. Da wirkt sie sehnig und beweglich: kein Wunder, sie hat zu Beginn ihrer Laufbahn auch als Tänzerin gearbeitet. Calderoni spielt die Solofigur in dem Stück MDLSX, das die Performancegruppe Motus aus Rimini gerade im Rahmen der Festwochen im Wiener Schauspielhaus zeigt.

Lisergic Queen

Erzählt wird die Lebensgeschichte einer Frau, die als Mädchen immer an einen Buben erinnert hat und zu Beginn ihrer Pubertät entdeckt, dass ihrer Weiblichkeit etwas Uneindeutiges anhaftet. Was der Stücktitel nahelegt, löst sich während der Performance ein: Motus hat sich die hermaphrodite Protagonistin Cal (Calliope) von Jeffery Eugenides Roman Middlesex (2002) geliehen, sie aus dessen komplexer Handlung geschält und in ein schlichter wirkendes Diskursgerüst gespannt.

Intersexualität

Eugenides kreuzt sowohl Migranten- und Sozialgeschichte als auch Inzest und Intersexualität. Enrico Casagrande und Daniela Francesconi Nicolò, die Masterminds von Motus, dagegen verzichten weitgehend auf die in diesen Zusammenhängen dräuenden Ambivalenzen und konzentrieren sich ganz auf die Darstellung eines von seiner Identitätssuche in den Narzissmus getriebenen Ich.

Dahinter steht die Ambition, ein weiteres Mal jenen leidigen Klassiker vorzuführen, der davon handelt, wie eine Gesellschaft mit Abweichungen von einmal gesetzten (Geschlechter-)Normen umgeht. Leidig ist die Notwendigkeit dieser Ambition vor dem Hintergrund eines politisch regredierenden Europa oder des Aufstands der FPÖ vor zwei Jahren gegen ein Plakat mit dem Transgendermodell Carmen Carrera. Ein Klassiker also. Leider.

Transsexuelle Freiheitsstatue

Mit geschickt gesetzten Erzählfragmenten unterstreicht Motus den politischen Gehalt der Geschlechterdiskussion. Und dieser geht weit über den Tellerrand der Freiheitlichen hinaus bis hin zur Frage, was Freiheit in einer heutigen Demokratie bedeutet. Salopp gesagt: Eine Freiheitsstatue für die Gegenwart müsste eine transsexuelle Figur sein. Insofern ist auch MDLSX einfach ein Plädoyer für allgemeine Akzeptanz. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Silvia Calderoni tritt als eine rasante DJane der geschlechtlichen Diversität auf und fährt ihre Calliope respektive ihren Cal auf fein gewählten Klassikern der Popmusik über die Szene. Sie mischt Videos, Musik, Text und flashige Lichterspiele sowie Faktisches mit Fiktivem. Dabei wird Eugenides nach Notwendigkeit gebogen – auch mit dem einen oder anderen Witz: Wenn etwa mit Blick auf Luis Buñuel das "obskure Objekt der Begierde" nicht mehr wie im Roman eine begehrte Person ist, sondern im Stück ein unerwartet gewachsenes Geschlechtsteil. Dieses Extra wiederum fehlt aber "Cal" Calderoni offensichtlich.

Enttäuschung der Befriedigung

Damit enttäuscht sie ihr Publikum nicht etwa, sondern erhält ihm im Gegenteil den Reiz der eigenen Vorstellung oder Fantasie. Das passt übrigens zu den Gedanken über die Enttäuschungen nach Eintritt einer Befriedigung, die der deutsche Philosoph Marcus Steinweg am Freitag im Tanzquartier und mit Bezug auf Roland Barthes vorgetragen hat. Was an demselben Abend übrigens von Florentina Holzinger und Vincent Riebeek im Wuk bei ihrem mehrfach queeren Stück Kein Applaus für Scheiße überdeutlich dargestellt wurde: Das Größte an der Erwartung kann der Genuss ihres Aufschäumens und Verebbens sein.

Im Zusammenhang damit gab es noch einen Witz bei MDLSX. Am Schluss trägt Silvia Calderoni – sozusagen als zweiten Körper – ein filmleinwandweißes T-Shirt mit der Aufschrift "My Girlfriend is a Marxist". Dazu spielt sie die alte Nummer Please, Please, Let Me Get What I Want von The Smiths.

Das ist wie der berühmte Kuss am Ende eines Filmdramas. Dieser Kuss gilt als Erfüllung vor der Befriedigung des eigentlichen (sexuellen) Begehrens, die sich nur in den Fantasien der Zuschauerinnen und Zuschauer einstellt, wenn auf der Leinwand "The End" aufleuchtet. Ein besseres (politisches) Ende könnte MDLSX nicht nehmen. Das Festwochen-Publikum war restlos begeistert. (Helmut Ploebst, 5.6.2016)