Der jüngste Bewohner der kleinen Gemeinde im Waldviertel ist der sechs Wochen alte Ahmed. Wenn Tawar Kum Nakch von ihm erzählt, macht sich ein Grinsen in seinem Gesicht breit.

Kum Nakch ist Zahnarzt in Litschau, einem Dorf mit 2500 Menschen im nördlichsten Waldviertel. Er sperrt die Tür zu seiner Ordination zu und macht sich auf den Weg zur Hauptschule, wo er einem Teil der 85 Flüchtlinge im Ort Deutsch beibringt – darunter auch Ahmeds Vater.

"Servus, grüß dich", sagt Kum Nakch, noch bevor er den Schlüssel aus der Tür zieht, zu einem anderen Litschauer. Der syrische Mediziner ist ein angesehener Mann in der Gemeinde, lebt seit mehr als 20 Jahren hier. Er ist mit ein Grund, warum sich kaum jemand gegen die neuen Bewohner gewehrt hat. Nähmen alle Gemeinden so viele Asylwerber auf wie Litschau, dann wäre in Österreich Platz für 300.000.

Bei der Wahl vor zwei Wochen haben trotzdem 62 Prozent der Litschauer Norbert Hofer gewählt. Die Gemeinde steht damit stellvertretend für den ländlichen Raum. Hofer hat auf dem Land im Schnitt 60 Prozent der Leute erreicht, in der Stadt nur 40 Prozent. Die politische Landkarte nach der Wahl ist vielen in Erinnerung geblieben: ein blaues Österreich mit ein paar grünen Flecken.

Aber warum hat der FPÖ-Kandidat auf dem Land so viel besser abgeschnitten als in den Städten? Wieso ticken die Menschen auf dem Land anders als in der Stadt? Die Antworten auf diese Fragen sind wie ein großes Puzzle. Ein paar Teile dafür finden sich in Litschau.

Kum Nakch, um die 60 Jahre alt, setzt sich, er hat viel zu erzählen. Dass bei der Wahl so viele blau gewählt haben, schockiert ihn nicht. Ein Präsident Hofer hätte ihn nicht gestört, sagt er. Die Regierung mit ihrer Klientelpolitik – "die Krankenkasse rot, die Schule schwarz" – hätte sich durchaus einen Denkzettel verdient.

Die Litschauer seien aber nicht ausländerfeindlich, nur weil sie diesmal für die FPÖ gestimmt hätten, sagt er. Es gebe Berührungsängste, vielleicht Bedenken. "Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht", sagt er in fast akzentfreiem Deutsch. Das Ergebnis in Litschau lässt sich so auch anders interpretieren: Hofer hat im Waldviertel teilweise 70 Prozent der Stimmen bekommen. Möglicherweise wäre das Resultat ohne Kum Nakch und die Flüchtlinge auch hier deutlich besser für die FPÖ ausgefallen.

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Eine Lesart, die Stadt vom Land abzugrenzen, sei der Umgang mit dem Fremden, sagt der Soziologe Rudolf Stichweh von der Universität Bonn. Da gehe es noch gar nicht um Ausländer. "Der Großteil der Menschen in der Stadt sind Fremde, unabhängig von der Herkunft. Das ist seit Jahrhunderten die Praxis des Lebens dort." Wer ständig mit Fremdem konfrontiert ist, werde liberaler, toleranter, dulde Dinge auch, wenn er sie nicht so toll finde, sagt Stichweh.

Ein gutes Beispiel sind die oberösterreichischen Landtagswahlen vom Vorjahr: In Gemeinden, wo keine Flüchtlinge wohnten, war das Ergebnis der FPÖ um 4,5 Prozentpunkte besser, wie eine Studie des Wifo zeigt.

"Häuser stehen leer, es gibt keine Jobs"

Die Litschauer haben ohnedies auch andere Sorgen als die Flüchtlinge. "Viele Häuser stehen leer, es gibt keine Jobs", sagt die Trafikantin im Ort. "Die Alten sterben, und die Jungen ziehen weg, um zu studieren und zu arbeiten." In den vergangenen zwanzig Jahren ist die Zahl der Bewohner in der Gemeinde um 600 zurückgegangen. Im restlichen Waldviertel ist es nicht viel anders. Als 2004 das nahe Tschechien der EU beitrat, wurde es für die Grenzregion noch schwieriger als zuvor.

"Von den Jobs her muss man nehmen, was man kriegt", sagt eine junge Litschauerin. Viele pendeln in Nachbarorte oder größere Städte, um zu arbeiten.

Frauen verlassen das Land

Vor allem junge Frauen kehren wirtschaftlich schwachen Regionen in Österreich den Rücken. Im Bezirk Gmünd, zu dem Litschau gehört, gibt es zwölf Prozent mehr Männer als Frauen im Alter von 15 bis 29. In anderen Problemregionen ist es ähnlich, etwa in der oberen Steiermark, im Südburgenland und in Unterkärnten (Sankt Veit, Völkermarkt, Wolfsberg).

Traditionell übernehmen Männer den Betrieb der Eltern, Frauen finden eher in der Stadt Jobs. In der liberaleren Stadt können sie dazu die noch sehr männerdominierte Welt auf dem Land zurücklassen. In Regionen, in denen es wenige Jobs gibt und aus denen Frauen wegziehen, hatte Hofer besonders viele Stimmen.

Viele Menschen auf dem Land pendeln in die nächstgelegene Stadt, haben Haus oder Wohnung aber weiterhin auf dem Land.
Maria von Usslar

Jede dritte Gemeinde verliert in Österreich Einwohner. Das macht sie aber nicht alle zur Problemzone. Weil Frauen immer weniger Babys bekommen, schrumpfen all jene Orte, in die nicht Leute von außerhalb ziehen. Werden die Menschen weniger, sperrt einmal ein Supermarkt zu, oder die Post verschwindet. Wenn man zum Einkaufen fünf Minuten länger mit dem Auto fahren muss, ist aber noch nicht Hopfen und Malz verloren.

Österreich profitiert von seiner kleinstädtischen Struktur. Viele Menschen auf dem Land pendeln in die nächstgelegene Stadt, haben Haus oder Wohnung aber weiterhin auf dem Land. Weil Straßen und Bahn sehr gut ausgebaut sind und mit Förderungen nicht gerade gespart wird, ist die Landflucht nicht so groß.

"Ländlicher Raum entwickelt sich überraschend gut"

Der ländliche Raum entwickelt sich mit einigen Ausnahmen überraschend gut, sagt der Wifo-Ökonom Franz Sinabell, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt. Das sei deshalb überraschend, weil das Land in fast allen anderen EU-Ländern den viel dynamischeren urbanen Regionen hinterherhinke.

Ein paar Zahlen: Die Hälfte der Menschen im Alter von 25 bis 64 lebt in Österreich auf dem Land. Das sind doppelt so viele wie in Deutschland. Drei von vier Betten für den Tourismus stehen in ländlichen Regionen, so hoch ist der Anteil sonst fast nirgends in der EU. Mit Griechenland ist Österreich das einzige Land der EU, wo es auf dem Land mehr Jobs gibt als in der Stadt. Auch von der Arbeitsmarktmisere der vergangenen Jahre sind vor allem die Städte betroffen.

Die Bundesländer entwickeln sich gut, sagt Ökonom Sinabell. Beim Deutschkurs wacht Landeshauptmann Erwin Pröll mit strengem Blick über die Klasse.
Maria von Usslar

Die These von den Modernisierungsverlierern auf dem Land, die aus Frust Hofer wählen, ist also nur für ein paar Problemregionen zulässig. Das unterstreichen auch Zahlen, die die Meinungsforscher von Sora vor den Wahlen erhoben haben: 23 Prozent der Landbevölkerung gehen davon aus, dass sich ihre Lebensqualität in den nächsten Jahren verbessert. In der Stadt sind es mit 26 Prozent kaum mehr. Eine kleine Minderheit in Stadt und Land denkt, dass sich die Dinge verschlechtern werden. Für das gute Ergebnis auf dem Land muss es also andere Gründe geben.

Auf der Suche nach weiteren Puzzleteilen wird man in Göllersdorf bei Hollabrunn fündig, einer kleinen, schmucken 3000-Seelen-Gemeinde im Weinviertel. Der Ort hat einen Pfarrer mit schwarzer Hautfarbe und einen Bauern mit grünem Parteibuch. Etwa 30 Minuten braucht man mit dem Auto von Wien bis zum Hof von Michael Deninger.

Der 27-jährige Vegetarier, zerzaustes dunkelblondes Haar, blaues Poloshirt, Farbflecken in der Arbeitshose, sitzt seit gut einem Jahr für die Grünen im Gemeinderat. Mit zwei Freunden hat er immerhin drei von 21 Sitzen für die Partei erkämpft.

Deninger fährt mit dem Traktor zu den Pferden, springt schwungvoll vom Gefährt und lächelt. Er ist stolz auf sein kleines Reich, in dem er Herr über Mist und Futter für die Einhufer ist. Die Pferdeboxen reihen sich aneinander wie Boliden beim Autorennen. Über hundert Pferde hütet er hier mit ein paar Mitarbeitern, ihm selbst gehört kein Einziges davon.

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"Zwei Drittel der Pferde sind im Besitz von Wienern", sagt Deninger, während er über den Hof schlendert. Bis zu 500 Euro lassen die hier für Kost und Logis springen. Im Monat. Den jungen Grünen haben Verschwörungstheorien politisiert. Er wollte den Blödsinn, den man sich im Internet erzählt, nicht mehr hinnehmen.

"Wenn die Grünen an die Macht kommen, können wir zusperren."

Wie ist das so, als Grüner auf dem Land? "Da musst du dir schon immer wieder blöde Sprüche anhören", sagt er. "Aber dein Traktor ist nicht aus Maisstärke, oder?", habe ihn jemand einmal gefragt.

Die Grünen haben den Ruf einer Verbotspartei, auf dem Land lässt man sich noch weniger gern Regeln vorschreiben als in der Stadt. Ihr Engagement für den Tierschutz schüchtert manche Bauern ein. "Wenn die Grünen an die Macht kommen, können wir den Betrieb zusperren", sagt einer.

Vom Hof von Bauer Deninger blickt man auf das Ziegelwerk von Wienerberger.
Maria von Usslar

Deninger hat bei seinem ersten Antritt bei den Gemeinderatswahlen in Göllersdorf binnen kürzester Zeit 13 Prozent der Stimmen erhalten. Das sind dreimal so viele, wie die Grünen im Schnitt in Niederösterreich bekommen haben. Die Leute hier kennen und schätzen Deninger, den vegetarischen Biobauern. Bei den Präsidentschaftswahlen haben trotzdem 59 Prozent der Menschen im Ort für Hofer gestimmt.

Menschen zu bekehren, das ist nicht seine Sache, sagt Deninger.
Maria von Usslar

Deninger hat keine Wahlwerbung für Van der Bellen gemacht. Bekehren, das sei nicht seine Sache. Hofer treffe den Stil der Menschen auf dem Land viel eher. Er komme als "einer von uns" an, sagt der Grüne. Das passt zu den Ergebnissen der Meinungsforscher. Die gewichtigsten Gründe für die Wähler des FPÖ-Kandidaten waren laut Sora: Er verstehe die Sorgen der Menschen, sei sympathisch und glaubwürdig. Van der Bellen schnitt wesentlich schlechter ab.

Die Grünen sind sich ihrer Imageprobleme auf dem Land bewusst. "Wir haben da ganz bewusst Signale gesetzt", sagt einer, der den Wahlkampf von Van der Bellen eng begleitet hat. Man habe die Notwendigkeit des Jagens hervorgehoben, die Gefahr von TTIP für die Bauern thematisiert und Geldzahlungen wegen der Frostschäden gefordert. Viel sei die Rede davon, dass Van der Bellen die Wahl in den Städten gewonnen habe. 40 Prozent der Menschen auf dem Land von sich zu überzeugen sei aber fast noch eine größere Leistung als die erwartbar guten Ergebnisse in den Städten.

Auf seinem Hof hütet Deninger 110 Pferde.
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Grüne Plakatständer auf dem Land waren darüber hinaus Mangelware. Bauer Deninger sagt, für Gemeinden mit weniger als 5000 Bewohnern habe es kein Budget gegeben. Die FPÖ war auf dem Land viel präsenter. Die Blauen haben im Wahlkampf viel damit gespielt, dass Van der Bellen ein Intellektueller ist, nannten ihn Teil der Hautevolee, der Schickeria oder einen Oberlehrer. Die Wahlfeier von Hofer fand in der Wiener Alm im Prater statt, die dem Land so nahekommt, wie eine Hütte in einer Millionenmetropole dem Land eben nahekommen kann.

Die FPÖ spielt gerne mit ländlichen Symbolen, ihre Politiker laufen regelmäßig in der Tracht herum. Dieses Kleidungsstück ist der letzte Teil, um das große Puzzle zu den Eigenheiten des ländlichen Raums in Österreich zusammenzufügen. Es führt zu Ernst Langthaler nach St. Pölten.

Wer den Historiker treffen will, muss ins Regierungsviertel der Landeshauptstadt. Von seinem Institut für die Geschichte des ländlichen Raumes sind es nur ein paar Gehminuten bis zum Büro von Erwin Pröll. Langthaler, um die 50, sieht den Trachtentrend auf dem Land, der immer größere Ausmaße annimmt, als eine Art Gegenbewegung zur Verstädterung. Stadt und Land hätten über Jahrhunderte parallel zueinander existiert, sich wenig beeinflusst. In den 1960ern und 1970ern wurde die Stadt dann zum Ideal, sagt er.

Die ungekürzte, nicht bearbeitete Version des Gesprächs mit dem Historiker Ernst Langthaler.

Die Menschen zogen in Scharen in die Stadt, Maschinen machten die Muskelkraft der Landarbeiter obsolet. Auf dem Land kopierte die Bevölkerung den Lebensstil der Städter. Auch die Landleute wollten im Sommer zwei Wochen in den Urlaub und einen Kühlschrank und richteten sich die Wohnung wie die Leute in der Stadt ein.

Die Tracht ist in: Auch beim FC Bayern.
Foto: apa

Mit dem EU-Beitritt Österreichs und der immer schnelleren Globalisierung stellt Langthaler einen verstärkten Trend zum "Lokalistischen" fest, dazu gehören alte Feste, Bräuche und eben die Tracht. Er spricht dabei von "erfundenen Traditionen", die langjährige Gewohnheiten vortäuschen. Die Tracht sei ursprünglich eine Erfindung von Städtern, die die Landbevölkerung imitieren wollten. Jetzt ist sie auf dem Land populär.

Traditionen geben Halt in einer schnelllebigen, sich ständig verändernden Welt. Davon profitieren auch kluge Geschäftsleute. Heimische Supermärkte appellieren an das regionale Gewissen und fahren damit höhere Margen ein. Der Lebensmitteldiskonter Hofer bringt seine Konsumenten "zurück zum Ursprung", Red Bull seinen Leser mit dem Erfolgsmagazin Servus in Stadt & Land das Landleben auf die Couch.

Der Trend macht vor der Stadt nicht halt. Die Wiener Stadtzeitung Falter hat vor kurzem ein eigenes Ressort "Landleben" eingeführt. Volksmusiker wie Andreas Gabalier stürmen in der Tracht die Charts. Und auch die Politik nascht mit. (Andreas Sator, Maria von Usslar, 4.6.2016)