Hebert Grönemeyer bei der Arbeit im Wiener Burgtheater.

FOTO: APA/GEORG HOCHMUTH
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Normalerweise feiert der deutsche Bundespräsident Herbert Grönemeyer bei seinen offiziellen Staatsbesuchen in Österreich Freiluftmessen im Ernst-Happel-Stadion, auf noch weitgehend unverbauten katholischen Aufmarschplätzen in zentraler Salzburger Lage – oder auch im Neusiedler-See-Schilf von Podersdorf. Dazu muss man sagen: 1. Heuer ätsch. 2. Heute, Donnerstag, 2.6.2016. 3. Samstag, 4.6.2016.

Heute gastiert der Mann, der uns seit Jahrzehnten versöhnende, Gräben zuschüttende und vor allem Trost spendende Ballaballa-Lyrik wie "Dauernd jetzt", "Bleibt alles anders", "Fang mich an" und "Die Brücke ist breiter als der Fluss" mit heiter-melancholischem "Glück auf!" zujapst, im Wiener Burgtheater. Die Klitsche fasst gerade einmal 1.200 Besucher und ist mittels eines breiten gesellschaftlichen Spektrums zwischen schicken Baucheinzieh-Sakkos und alten Männern in würdelosen T-Shirts repräsentativ aufgestellt. Wir haben es heute also mit einer Audienz des hohen Gastes in einem für seine Verhältnisse als Studentenkeller durchgehenden Etablissement zu tun. Nach zweimaliger Passkontrolle, der Adress- und Telefonnummernangabe, dem Versprechen, die Sozialversicherungsnummer baldigst nachzureichen, einem Testabo der Zeitschrift "Der gute Mensch" und dem richtigen Zitieren des Liedes "Ich hab dich lieb" vor einer Fachjury ist man auch schon im Saal.

Der Saal kocht. Die Luft steht. Es riecht nach Turnunterricht, allerdings schon nach dem Duschen mit Deo:

Oh, es ist okay, alles auf dem Weg, und es ist Sonnenzeit, ungetrübt und leicht.

Herbert Grönemeyer und seine siebenköpfige Begleitband kommen aus Bochum. Bochum als Idee. Arbeiterstadt. Grauschleier. Gute, einfache Leute. Ehrlich. Gerader Blick. Das Wort Kumpel kommt von dort. Unter Tage. Dort wurde sehr viel früher Kohle abgebaut. Jetzt schöpft man dort den Blues. Auf der anfangs abgedunkelten Bühne tragen alle Stirnlampen. Suchen, vortasten, was mag da sein? Die Heimat war früher, jetzt geht es nach vorn, aber nicht wirklich. Was haben wir eigentlich vorn verloren? Dort gibt es nur Probleme. Dauernd ist irgendetwas. Aber tapfer sein, achtsam sein. Nicht bücken, nicht beugen. Vor niemandem. Rückgrat beweisen, Mensch bleiben. Das ist das Handwerkszeug des deutschen Soul. Herbert Grönemeyer spendet Trost und Rat.

Zu Beginn japst Grönemeyer unter gleichzeitigem Magenknurren kraftvoll "Unter Tage". Später wird beim "Steigerlied" und dem anschließenden Gassenhauer "Bochum" jene Form von länderübergreifendem Patriotismus betrieben, bei der eines gilt: Hier dürfen auch Leute mitmachen, die Heimat mit dem Herzen und nicht mit Zäunen denken.

Der deutsche Bundespräsident spricht die Flüchtlingsthematik im Burgtheater selbstverständlich mehrmals an. Mit staatsmännischen Worten und natürlich ohne jemanden zu verletzen – und auch die Ängste jener Leute verstehend und auf sie zugehend, die einem mit ihrem Menschen- und Selbsthass schon seit Jahrzehnten Angst machen – geht es Herbert Grönemeyer um eines: "Haltung zeigen". Die Stimmung könne leicht kippen, man kenne das aus der Geschichte. Wir alle seien "extrem gefordert". Es gehe um "Empathie und Humanismus". Das dazu passende Lied wird solo am E-Piano vorgetragen. Alle sind jetzt sehr nachdenklich. Das kleine Dings mit den Flügeln auf der rechten Schulter flüstert einem ins Ohr: "Er macht das sehr gut. Die Leute brauchen das zur Stärkung, es gibt ihnen Mut und Kraft. Gerade jetzt ist das so unendlich wichtig." Der lästige rote Siech links aber meint, dass er es heute mit dem staatstragenden Bullshit-Bingo wieder nur unwesentlich teurer als ein Landpfarrer mit Predigt-Bastelbuch gibt.

Gott sei Dank kommen auch die alten Kracher wie "Alkohol", "Mensch" und "Was soll das?". Sie rocken gewohnt wuchtig alle Bedenken weg. Sie feiern das Fest des Lebens. Herbert Grönemeyer tanzt dazu gewohnt ausdrucksstark und erklärt die Texte gestisch so wie ein Opernsänger, wenn er einen Akt lang stirbt oder die Geliebte mit dem Herz in der Hose stundenlang anschmachtet, aber nicht aus dem Gewand steigen darf. Das ist toll. Ernsthaft.

Beim Lied "Männer" von 1984 kommen einem aber immer noch die Tränen. Die wie ein quietschender Gummiball durch den Saal hüpfende Keyboardmelodie macht, dass man an Deutschland in der Nacht sehr besorgt denkt. It's my party and I cry if I want to. Ach, das Lied ist einfach nicht gut.

Herbert Grönemeyer sagt glückselig in die Standing Ovations hinein: "Ich weiß ja nicht, wie ich aussehe, aber ich versuche von innen zu strahlen." "Jeder für jeden". "Zeit, dass sich was dreht". "Ich dreh mich um dich". "Ich lieb mich durch". "Flugzeuge im Bauch" gibt es als Schlurfjazz-Version natürlich auch. Den Blödsinn mit "Kinder an die Macht" hat er mittlerweile sein lassen. Er ist ja auch Vater. Nach 30 Liedern ist mit "Der Mond ist aufgegangen" Schluss. Herbert Grönemeyer muss weiter. Heute Salzburg. Samstag Podersdorf. Momentan ist richtig, momentan ist gut. (Christian Schachinger, 2.6.2016)