Gibraltar ist so EU-freundlich wie keine andere britische Region: 88 Prozent der "Llanitos" – so nennen sich die Einwohner in ihrer eigenwilligen Mischung aus Englisch und andalusischem Spanisch – wollen laut Umfragen des Gibraltar Chronicle am 23. Juni für die EU stimmen.

Wenn ein Brexit jemandem so richtig Angst macht, dann den Llanitos: "Der spanische Außenminister war deutlich", warnt Fabian Picardo, Chefminister des britischen Gebietes an der Südspitze Spaniens, "wenn Großbritannien die EU verlässt, kann das zur Schließung der Grenze führen. Wenn Gibraltar weiterhin Zugang zum einheitlichen Markt und Reisefreiheit will, kämen wir nicht umhin, eine geteilte Souveränität mit Spanien zu erwägen."

Die Reaktionen auf das Sky-News-Interview des Sozialisten ließen nicht auf sich warten: In London befürchtete so mancher, die Regierung in Gibraltar könne Ernst machen und London den Rücken kehren. Was aber alle überhört hatten, war Picardos letzter Satz: Niemand sei "darauf vorbereitet, so etwas tatsächlich in Betracht zu ziehen". Dem Chefminister geht es nicht darum, die Seiten zu wechseln, sondern den Brexit-Anhängern im Mutterland klarzumachen, dass "sie so manche Frage beantworten müssen".

Die 30.000 Gibraltarer wissen, was es bedeutet, eingeschlossen zu sein. 1969 machte die Franco-Diktatur die Grenze dicht. Erst 1982, als Madrid über den EU-Beitritt verhandelte, wurde der Zaun wieder aufgemacht. Der Flugverkehr blieb sogar bis 2006 verboten.

Bilaterales Reizthema

Gibraltar sorgt immer wieder für Missstimmung zwischen London und Madrid. Unter der sozialistischen Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero (2004 bis 2011) schienen die Konfliktparteien aufeinander zuzugehen, doch als 2011 die Konservativen unter Mariano Rajoy an die Regierung kamen, beendeten sie den Dialog. "Nie zuvor hatte ein Außenminister Gibraltar auf eine Stufe mit Spanien und dem Vereinigten Königreich gestellt – und somit anerkannt. Das war eine Schnapsidee", hieß es in Madrid.

Für die spanische Rechte ist Gibraltar ein Reizthema. So schlug Justizminister Rafael Catalá Mitte Mai eine Einladung zu einem Empfang in Downing Street 10 aus, als er in London weilte. Der Spanier war verstimmt, denn der britische Außenminister hatte am Vorabend Gibraltar besucht. (Reiner Wandler aus Madrid, 1.6.2016)