Die Globalisierung gebiert immer neue Paradoxa. Die Einwohner der am meisten vom Außenhandel profitierenden EU-Mitglieder Deutschland und Österreich lehnen das Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (Ceta) bzw. das eben mit den USA verhandelte (TTIP) am vehementesten ab. Während aber die deutsche Bundesregierung dennoch geschlossen hinter diesen Abkommen steht und auf eine rasche Umsetzung drängt, ist die österreichische Politikerelite fast geschlossen dagegen und fordert einen Stopp für Ceta und TTIP.

Die österreichische Wirtschaft hat nach dem Auslaufen der Integrationseffekte von 21 Jahren EU-Mitgliedschaft und zwölf Jahren EU-Erweiterung in den letzten Jahren stark an Dynamik verloren. Nachdem innerösterreichische Stimuli sowohl vom Staat als auch seitens der Privatwirtschaft derzeit ausbleiben, wären neue Impulse durch mehr internationalen Handel wünschenswert. Niemand erwartet von den genannten Abkommen eine rasche Konjunkturbelebung, aber alle seriösen Studien bescheinigen Österreich durch Ceta (relativ kleine), aber besonders durch TTIP längerfristige Wachstumsimpulse. Zwar sind nicht alle Sektoren gleichermaßen begünstigt (die Landwirtschaft muss sich auf stärkeren Wettbewerb einstellen), aber die hiesige Volkswirtschaft insgesamt wird langfristig ihr BIP um 0,5 bis zu einem Prozentpunkt steigern können.

Gerade die KMUs in Österreich dürften die Hauptnutznießer von TTIP sein, während die großen Firmen sich auch ohne Abkommen gegen Handelshürden zu helfen wissen. Aber manche in Österreich wollen sich lieber vom Ausland abschotten und auf neuen Wohlstand verzichten. Damit liegen sie im neuen zentraleuropäischen Trend (wohl auch befeuert durch die Flüchtlingskrise) der zunehmenden Abschottung (Heimat zuerst) und Verweigerung einer weiteren Globalisierung (Multis – nur nicht das Smartphone – sind suspekt).

Wenn nun in Österreich allseits von der Kommission ein Verhandlungsstopp mit den USA gefordert wird, wird leicht übersehen, dass am 14. Juni 2013 die 28 EU-Mitgliedsstaaten einstimmig (auch unser vor kurzem zurückgetretener Bundeskanzler hat zugestimmt) der Kommission ein Mandat zur Aufnahme von Verhandlungen über eine umfassende Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) mit den USA erteilt haben. Die Kommission kann die Verhandlungen nur stoppen, wenn ihr der Europäische Rat einstimmig ein neues Mandat erteilt.

Der Abschluss solcher Freihandelsabkommen der "Neuen Generation" folgt der von der Kommission 2007 neu entwickelten Strategie "Global Europe". Solche Verträge umfassen nicht nur Handelsliberalisierung (Zollabbau, Beseitigung sonstiger Handelshemmnisse), sondern auch die Erleichterung von gegenseitigen Investitionen und den Handel mit Dienstleistungen sowie die Einigung auf gemeinsame Standards. Das erste derartige Abkommen war das zwischen EU und Südkorea von 2011. Die nächsten werden Ceta und eben TTIP sein.

Gemischtes Abkommen

Bereits bei Ceta, das auf dem EU-Kanada-Gipfel im Oktober unterzeichnet werden soll, gibt es Hürden für die Inkraftsetzung. Für die Wirtschaftsminister der EU ist es ein "gemischtes Abkommen", weil es EU- und nationale Kompetenzen berührt. Dann müsste es nicht nur vom Ministerrat und EU-Parlament, sondern auch von allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Die Kommission will darüber Mitte Juni befinden. Die Ratifikation von Ceta (das Globalisierungskritiker verhindern wollen) ist noch ein steiniger Weg. 28 nationale Ratifikationen werden noch Jahre dauern. Daher wird es wohl – wie in früheren Fällen (das EU-Südkorea-Abkommen wurde auch zuerst am 1. Juli 2011 von der Kommission provisorisch angewandt und erst nach Ratifikation durch alle nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten am 13. Dezember 2015 in Kraft gesetzt) – zuerst mit jenen Teilen mit ausschließlicher EU-Kompetenz provisorisch angewandt werden.

Nie zuvor hat ein Handelsabkommen die Öffentlichkeit so sehr beschäftigt wie TTIP. Nicht zuletzt deswegen, weil die multilaterale Handelsliberalisierung im Rahmen der WTO (Doha-Runde) seit 2001 stockt, unterhält die EU (wie auch die USA) ein dichtes Netz bilateraler Freihandelsabkommen mit fast allen Ländern der Welt (auch "Spaghetti-Schüssel" genannt). TTIP war dagegen von Anfang an ein Reibebaum. Betrafen bisherige Handelsabkommen fast nur ökonomische Aspekte (Zollabbau), ist das bei TTIP ganz anders. Es reicht weit in politische Belange hinein (Harmonisierung von Standards und Normen) und berührt damit die unterschiedlichen Präferenzen von Konsumenten (USA Hormonfleisch, EU nicht).

Einige Bestandteile von TTIP werden als mögliche Eingriffe in nationalstaatliche Demokratiespielregeln gesehen (z. B. durch private Investitionsschiedsgerichte und durch die Einrichtung eines Rates zur regulatorischen Kooperation). Dazu kommt, dass seit der NSA-Affäre das Vertrauen in die USA nachhaltig beschädigt ist. Die "jüngste Inszenierung von Greenpeace" (Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner) durch geleakte Dokumente über die angeblich harten Verhandlungspositionen der USA hat die Ängste der Europäer (vor allem der Österreicher) weiter geschürt. Als Affront wurde auch die von den USA verlangte Vertraulichkeit der Verhandlungen (Geheimhaltungspolitik der EU) angesehen, obwohl auch die bisherigen Abkommen kaum jemals öffentlich verhandelt wurden.

Minderwertigkeitskomplexe

Viele in Europa (besonders im kleinen Österreich) scheinen Minderwertigkeitskomplexe ge-genüber den mächtigen USA zu haben. Dafür besteht objektiv gar kein Anlass, ist doch die EU nach wie vor eine Welthandelssupermacht und daher ein ebenbürtiger Partner für die USA. Wir verhandeln diesmal nicht mit einem schwächeren Partner (wie Kanada, Korea oder Entwicklungsländer), sondern mit einem gleichwertigen hochentwickelten Industriestaat. Es ist nur logisch, dass bei Standards und Normen nicht auf das jeweils niedrigere Niveau harmonisiert wird, sondern dass das Abkommen die bisherigen Präferenzen beider Partner wechselseitig berücksichtigt.

Auch über den Investitionsschutz, der den USA besonders wichtig ist, haben sie doch weitaus mehr Multis als die EU, wird es eine Lösung geben (müssen). Die EU hat bereits mit Kanada im Februar das Ceta diesbezüglich überarbeitet und einen eigenen öffentlichen Investitionsgerichtshof eingerichtet. Ähnliches wird für TTIP vorgeschlagen.

Wie stehen nun die Chancen für TTIP? Ursprünglich wurde ein Abschluss für Ende 2014 erwartet. Dann wurde Ende 2015 angepeilt. Derzeit wird mit Ende 2016 spekuliert (Handelskommissarin Malmström will noch in der Amtszeit Obamas bis Ende dieses Jahres einen Abschluss, wobei gilt: "Inhalt ist wichtiger als Schnelligkeit"), obwohl der Präsidentschaftswahlkamp in den USA dafür nicht gerade förderlich ist. Die Spitzenkandidaten Hillary Clinton und Donald Trump sind gegen solche Abkommen, zunächst einmal würden sie eine Ratifizierung der mit elf Partnerländern abgeschlossenen Transpazifischen Partnerschaft (TPP) mit lateinamerikanischen und asiatischen Ländern blockieren.

Handelsströme umleiten

Dem TTIP wird daher auch seitens der künftigen US-Administration kein großes Wohlwollen entgegengebracht. Nun, die USA und die EU werden ohne TTIP nicht untergehen. Aber die USA sitzen auf dem längeren Ast. Sie können durch TPP ihre Handelsströme nach Asien umleiten und Europa vernachlässigen. Es wird dadurch zu massiven Handelsumlenkungen und Wohlstandseinbußen in Europa kommen. Vielleicht kann die neue Führung der Bundesregierung wieder zurück zur ökonomischen Vernunft finden und Freihandel vor Abschottung setzen. (Fritz Breuss, 30.5.2016)