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Es geht um Macht: Ryan Gattis hat einen mit Zahlen und Fakten untermauerten Los-Angeles-Krimi geschrieben.

Foto: 2014 Sam Tenney Photography
Foto: Rowohlt

Unter "Sourced Fiction" versteht man eine Vorgehensweise, bei der harte historische uns statistische Fakten mit Fiktion verbunden werden. Ryan Gattis hat sich mit den Ereignissen rund um die Unruhen in Los Angeles befasst, die 1992 wegen der Misshandlung des Schwarzen Rodney King durch weiße Polizisten ausbrachen.

Ryan Gattis entwirft hier einen "Reigen": Die Handlung setzt sich aus den Taten und Erfahrungen von Personen zusammen, die miteinander auf verschiedenste Weise verbunden sind. In diesem "Reigen" geht es aber nicht um Sex, sondern um Macht.

Den Plünderern, Vergewaltigern und Mördern ist Rodney King völlig egal. Die Latino-Gangs nutzen den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, um Reviere abzustecken und alte Rechnungen zu begleichen. Die primitive Regel gilt: Tötest du einen aus meiner Gang, töte ich einen aus deiner.

270 Quadratkilometer Feuer

Ungestraft werden persönliche Rachegelüste befriedigt, Häuser angezündet, entweder um Versicherungen zu betrügen oder weil man die Läden von Minderheiten – zum Beispiel Koreanern – zerstören will. In Los Angeles brennen 270 Quadratkilometer.

Feuerwehrleute, die, wenn überhaupt, nur unter bewaffnetem Schutz in diese Gebiete vordringen können, werden angegriffen, ganz einfach weil man es kann; Plünderer von Waffengeschäften schießen und werden erschossen, Polizisten, die das Pech haben, vom Mob umzingelt zu sein, riskieren ihr Leben. Und das hat alles gar nichts mit der Empörung über rassistische Diskriminierung eines einzelnen Polizeiopfers zu tun.

Die Stadt hatte 1992 3,6 Millionen Einwohner, das County 9,15 Millionen. 102.000 aktiven Gangmitgliedern standen 7900 Polizisten und Sheriffs gegenüber, eine hoffnungslose numerische Unterlegenheit. Wo die Zivilisation zusammenbricht, herrscht archaisches Faustrecht, der eigentliche Anlass zum Ausbruch von Gewalt wird bedeutungslos.

Rausch der Anarchie

Diese Riots, bei denen etwa 60 Menschen umkommen, wirken wie ein Laborexperiment unter realistischen Bedingungen. Den wenigen, die versuchen, diesem Rausch der Anarchie Widerstand entgegenzusetzen, ergeht es zumeist nicht gut.

Gattis zeigt anhand einer realen Begebenheit exemplarisch, was passiert, wenn die sogenannten "sozialen Brennpunkte" von der Mehrheitsgesellschaft aufgegeben wurden. Er entschuldigt dabei keineswegs die Gangster; doch wie sollte man einem Teenager beibringen, dass es Sinn hat, in die Schule zu gehen, wenn er sieht, wie der große Bruder einen Haufen Geld mit Drogen verdient? Es ist eine Welt mit diametral entgegengesetzten Spielregeln, die sich hier Luft macht.

Authentizität und Empathie

In jedem Kapitel lässt Gattis eine andere Figur zur Sprache kommen. Diese Sprache passt er dem jeweiligen geistigen Horizont seines Protagonisten an. Dadurch entsteht ein abwechslungsreicher, faszinierend abstoßender Text, der manchmal aber auch anrührend ist. Zum Beispiel, wenn er Einblicke in die Gedankenwelt eines Sprayers gewährt. Das ist insofern besonders spannend, weil Gattis Mitglied einer Urban-Art-Gruppe ist und diesem eigenartigen Milieu wohl näher kommt als ein Kunstkritiker.

Der Autor hat einen Gangsterboss als Informanten gewinnen können; also darf man neben den Zahlen und Fakten auch eine gewisse Authentizität der Atmosphäre annehmen. Es ist ein Unterschied, ob man die Geschehnisse als Roman vorgeführt bekommt oder als trockene politisch-soziale Analyse. Empathie in die eine oder andere Richtung ist lehrreich, aber auch furchterregend. Los Angeles kann überall aufbrechen. Wobei die Frage, ob sich seitdem in South Central Los Angeles etwas geändert hat, wohl ein eigenes Buch rechtfertigen würde. (Ingeborg Sperl, Album, 28.5.2016)