Als Paul Tibbets, der Pilot der Enola Gay, im Oktober 2007 das Zeitliche segnete, hatte er nie ein öffentliches Wort des Bedauerns für die Tragödie von Hiroshima gefunden. "Man kann sich darüber nicht den Kopf zermartern, es gibt keine Moral in der Kriegsführung, Krieg an sich ist unmoralisch", sagte er sieben Jahre vor seinem Tod in einem seltenen Interview, einem Gespräch mit dem amerikanischen Radiosender NPR. Am 6. August 1945 saß Tibbets am Steuer jener B-29, von der die Bombe, der die Militärs den Namen "Little Boy" gegeben hatten, über Hiroshima abgeworfen wurde. Die Maschine hatte er nach seiner Mutter benannt.

Die Sicht des Piloten, sie ist bis heute die vorherrschende geblieben, wenn in den Vereinigten Staaten über Hiroshima diskutiert wird, wie jetzt vor dem Besuch Barack Obamas. Nach einer Umfrage des Pew-Instituts halten 56 Prozent der Amerikaner den Einsatz der Bombe für gerechtfertigt, während 34 Prozent widersprechen und die Übrigen sich nicht festlegen möchten. Eine Mehrheit hält es nach wie vor mit den Worten Harry Trumans, des Präsidenten, der die Order zum Abwurf gab. "Wir haben uns der Bombe bedient, um die Qualen des Krieges zu verkürzen, um das Leben Tausender und Abertausender Amerikaner zu retten", begründete er seinen Befehl. Obama, das hat das Weiße Haus bereits klargestellt, wird sich nicht von Truman distanzieren, weder dessen Strategie infrage stellen noch in Hiroshima um Verzeihung bitten.

Eine Welt ohne Atomwaffen

Auf welch schmalem Grat er sich bewegt, ließ er bereits mit einem verbalen Slalomlauf im japanischen Fernsehsender NHK erkennen. Mitten in einem Krieg hätten Politiker in führenden Positionen alle möglichen Entscheidungen zu treffen, es sei Aufgabe von Historikern, diese zu untersuchen. "Als jemand, der in den vergangenen siebeneinhalb Jahren in so einer Position war, weiß ich, dass es sehr schwere Entscheidungen sind, besonders in Zeiten des Krieges."

So vorsichtig Obama die innenpolitischen Klippen zu umschiffen versucht, zu erleben ist einmal mehr ein Mann des außenpolitischen Ausgleichs, der so markant wie nur wenige seiner Vorgänger neue Kapitel aufschlägt. 90 Jahre hatte kein US-Präsident kubanischen Boden betreten, bevor er die Insel besuchte. Nach Myanmar, zuvor eine Art Terra incognita für amerikanische Staatschefs, ist er gleich zweimal geflogen. Mit der Fahrt nach Hiroshima wiederum verbindet sich ein Traum, mit dem Obama bereits als Neuling im Oval Office Akzente setzte, die Vision einer atomwaffenfreien Welt, die in der Realität freilich angesichts der Aufrüstung Nordkoreas und Pakistans in noch weitere Ferne gerückt ist. "Als die einzige Nuklearmacht, die eine Nuklearwaffe eingesetzt hat, stehen die USA in der moralischen Pflicht des Handelns", sagte er 2009 in seiner euphorisch bejubelten Prager Rede. Hiroshima, das Symbol für eine Agenda.

Ein Kniefall vor dem Aggressor

Obama ist nicht der erste amerikanische Präsident, der in die japanische Stadt kommt, wohl aber der erste, der es zu Amtszeiten tut. Als Jimmy Carter 1984 im Friedenspark Hiroshimas einen Kranz niederlegte, war er knapp vier Jahre zuvor abgewählt worden. Richard Nixon, der 1964 mit zwei Schweigeminuten der Toten gedachte, sollte erst fünf Jahre später den Sprung ins Weiße Haus schaffen. Und so sorgfältig Obama jedes seiner Worte zu Truman abwägt, es ändert nichts daran, dass manche Republikaner – ebenso wie manche Militärs – allein schon im Faktum seines Besuchs einen unangemessenen Kniefall vor Japan sehen, vor dem Aggressor, der die USA mit dem Angriff auf Pearl Harbor hinterrücks überfiel.

Bereits der Trip als solcher könnte als stillschweigende Entschuldigung angesehen werden, ein schwerer Affront gegenüber den Soldaten, die sich geopfert hätten, um Asien zu befreien, schreibt Lloyd R. Vasey, ein pensionierter Konteradmiral der 7. US-Flotte, in einem Beitrag für das Center for Strategic and International Studies, einen Thinktank. Republikanische Kritiker machen es dem Demokraten im Weißen Haus ohnehin ständig zum Vorwurf, dass er kleinmütig um die Welt jette, um für vermeintliche Sünden Amerikas Abbitte zu leisten. Ob Obamas globale Entschuldigungstour wohl in Hiroshima ende, fragte vor Monaten der "Weekly Standard", die Zeitschrift der Neokonservativen.

Am anderen Ende des Meinungsspektrums stehen linke Wissenschaftler wie Noam Chomsky oder der Politökonom Gar Alperovitz, Autor zweier Bücher über die Geschichte der Atomwaffe. Um Japan zur Kapitulation zu zwingen, seien die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki absolut unnötig gewesen, argumentiert Alperovitz. Vielmehr sei es um eine Demonstration militärischer Macht gegangen, um ein Signal, das man in der Morgendämmerung des Kalten Krieges nach Moskau senden wollte. (Frank Herrmann aus Washington, 26.5.2016)