Das Pockenvirus kostete im 18. Jahrhundert alleine in Europa mindestens 60 Millionen Menschen das Leben. Heute soll es nur mehr in zwei abgeschotteten Labors existieren.

Foto: Centers for Disease Control and Prevention

New York – Im Sommer 2014 stießen Wissenschafter bei einem Umzug in einem Abstellraum der US-Gesundheitsbehörde NIH nahe Washington auf mehrere ominöse Reagenzgläser. Genauere Analysen erbrachten ein beunruhigendes Ergebnis: Einige der Behälter enthielten Pockenviren. Vermutlich stammten die Kulturen aus den 1950er-Jahren und waren schlicht vergessen worden. Die US-Kontrollbehörde für Infektionskrankheiten (CDC) beeilte sich zu versichern, dass die Reagenzgläser sofort in Sicherheit gebracht worden und Menschen zu keiner Zeit in Gefahr gewesen seien. Vorfälle wie dieser hinterlassen dennoch einen unangenehmen Nachgeschmack.

Gleichsam in "freier Wildbahn" war das Pockenvirus Orthopoxvirus variola, das im 18. Jahrhundert alleine in Europa 60 Millionen Menschen das Leben kostete, zum letzten Mal 1977 in Somalia aufgetreten. Kurz darauf wurden die Pocken von der Weltgesundheitsorganisation nach einem weltweiten Impfprogramm offiziell für ausgerottet erklärt.

Auftrag zur Vernichtung

Auch alle noch verbliebenen Restbestände von Pockenviren in Labors sollten vernichtet werden, beschloss die WHO bei ihrer 49. Jahresversammlung vor 20 Jahren (25. Mai 1996). Als Frist wurde der Sommer 1999 angesetzt – doch auch mehr als 16 Jahre später lagern immer noch offizielle Bestände in einem US-amerikanischen und einem russischen Labor. Zudem ist unklar, ob in einigen Staaten heimlich Virenbestände behalten wurden.

Die WHO hat Frist und endgültige Entscheidung immer wieder vertagt. Bei einem derzeit stattfindenden Treffen stehe das Thema erneut auf der Tagesordnung, sagt ein WHO-Sprecher. Ob diesmal eine Entscheidung fällt, ist noch nicht abzusehen.

"Die Hauptursache dafür ist politisch", sagt David Evans, Mediziner an der Universität von Alberta in Kanada, der sich seit Jahren mit Pocken beschäftigt. Die zuständigen Politiker schwankten zwischen der Sorge vor Bioterrorismus und der Notwendigkeit der Forschung an den Viren. "In den USA liegt eine endgültige Entscheidung gerade ein bisschen auf Eis. Und in Russland ziehen sie einfach mit. Sie werden ihre Bestände nicht zerstören, bevor die USA nicht ihre eigenen zerstören. Das ist eine Sache des Nationalstolzes."

Bioterrorismus: Nachbau wäre einfacher

Die Bestände seien sicher, sagt Evans, der beide Labore mehrfach inspiziert hat. Die Viren lagern in der Nähe von Nowosibirsk in Russland und in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. "Die Viren werden unter anderem von schwerbewaffneten Männern bewacht." Die Gefahr, dass die Erreger in die Hände von Terroristen kommen, sei extrem gering. "Heutzutage könnten Terroristen sie synthetisch nachbauen, das wäre viel einfacher, als die Viren zu stehlen."

Die Forschung an den Pocken könnte aber deutlich heruntergefahren, wenn nicht sogar ganz beendet werden, sagt Evans. "Wir haben gegen Pocken ein gutes Medikament, einige gute Impfstoffe und gute Diagnosemöglichkeiten. Ich bin nicht überzeugt, dass die andauernde Forschung noch von Wert ist."

Und eine völlige Vernichtung der Viren? Das ginge zu weit, findet Evans. "Wir sollten sie da lassen, wo sie sind, wegsperren und überwachen. Wenn wir sie dann – aus was für einem Grund auch immer – doch noch einmal brauchen sollten, dann haben wir sie und müssen sie nicht extra synthetisch nachbauen." (APA, red, 24.5.2016)