Die Parteien hinter den beiden verbliebenen Präsidentschaftskandidaten heften sich deren gute Ergebnisse auf die Fahnen – manche vereinzelt und subtil (die Grünen), manche eifrig und protzig (die FPÖ). Das war nicht anders zu erwarten: Blöd wären sie, es nicht zu tun. Und blöd wären sie, nicht von der großen Zukunft zu reden, die der eigenen Partei durch das Abschneiden von Alexander Van der Bellen oder Norbert Hofer bevorstehe.

Immerhin hätten viele am Sonntag erstmals einen Kandidaten von FPÖ oder Grünen gewählt – und tun das bei anderen Wahlen vielleicht wieder. So klug das taktisch ist, um die Euphorie in den eigenen Reihen zu halten: Wahr macht es das Märchen von der nun angeblich überwundenen Hemmschwelle noch nicht.

Der Vegetarier und das Steak

Die Logik der Parteizentralen kommt nämlich gleich ohne eine Reihe von Faktoren aus, die für künftige Wahlentscheidungen von Bedeutung sind. Da ist zum einen die Zwangslage, mit der sich viele Wähler konfrontiert sahen, die ihr Wahlrecht nicht verschenken wollten: Per Definition lässt die Stichwahl dem Souverän nur zwei Optionen. Mit wie viel Bauchweh viele Staatsbürger abgestimmt haben dürften, zeigen die Wahlmotive – der zweite gewichtige Faktor, den die Parteistrategen übersehen.

23 Prozent der Hofer-Wähler gaben als Wahlmotiv an, dass Van der Bellen unwählbar sei. Gleich 40 Prozent der Wähler des grünen Kandidaten wählten ihn, um Hofer zu verhindern. Welche Relevanz hat das bei einer Nationalratswahl, bei der weit mehr als zwei Alternativen zur Verfügung stehen? Kein Vegetarier wird sich freudig Krautsuppe kochen, nur weil sie vor zwei Jahren die einzige Alternative zum Steak war.

Hinzu kommt die Personalauswahl für diesen Wahlgang: Grüne wie FPÖ stellten Kandidaten auf, von denen sie wussten, dass sie weit in andere Lager mobilisieren. Van der Bellen erreichte viele Bürgerliche, Hofer überzeugte mit seiner sanften Art viele, die vom polternden Strache abgeschreckt wären. Günstig für eine Personenwahl – doch bei der viel stärker auf Inhalte fokussierten Nationalratswahl geht es um mehr. Und dass Hofer nun die FPÖ übernimmt, gilt zumindest vorerst als unwahrscheinlich.

Hemmungen? Ein Phänomen des letzten Jahrhunderts

Mit der Mär von der Hemmschwelle unterstellen FPÖ und Grüne der Bevölkerung infantile Wahlentscheidungen – nach dem Motto: "Woher willst du denn wissen, dass dir die Partei nicht schmeckt, wenn du sie noch nie gewählt hast?" Das ist nicht nur respektlos, sondern zeigt auch ein sehr selektives Verständnis für die politischen Umbrüche der letzten Jahre. Die Stammwähler sind fast ausgestorben; Bedenken, eine andere Partei als die zu wählen, die man immer schon gewählt hat, ein Phänomen des letzten Jahrhunderts. Die Mär von der überwundenen Hemmschwelle ist allein deshalb absurd, weil es längst keine Hemmungen mehr gibt. (Sebastian Fellner, 23.5.2016)