Neu-Delhi – Sie kann ihren Triumph selbst kaum fassen. Ihr komme alles noch wie ein Traum vor, sagt Tina Dabi. Die 22-Jährige mit den vollen, dunklen Haaren hat gerade indische Geschichte geschrieben: Als erste weibliche Dalit, wie sich Indiens Unberührbare heute nennen, hat sie als Beste den berüchtigt schweren Bewerbungstest für Indiens gehobenen Staatsdienst bestanden und hunderttausende Mitbewerber aus dem Feld geschlagen. Indiens Medien feiern die junge Frau, die die "Hürden von Kaste und Geschlecht" überwand, als Vorbild.

Dazu muss man wissen, dass das dreistufige Bewerbungsverfahren für Indians Administrative Service (IAS), Indiens Elite-Staatsdienst, nicht irgendein Test ist. Kaum ein Examen ist härter und brutaler. Über 400.000 junge Inder versuchten sich diesmal an dem Test, um eine Laufbahn als Elitebeamter einzuschlagen. Weit über 99 Prozent fielen durch. Nur rund 1000 Kandidaten, die Besten der Besten, bekommen am Ende eine der heiß begehrten Stellen in den Verwaltungen von Zentral- oder Landesregierungen.

Inspiration für Frauen

Und in diesem Jahr hat es Tina Dabi, das Mädchen aus der Kaste der Unberührbaren, allen gezeigt. Gleich beim ersten Versuch toppte sie den Test. Ihr Erfolg ist auch eine Geschichte des sozialen Wandels. Noch vor 40, 50 Jahren wäre ein solcher Triumph unmöglich gewesen, meint der Parlamentarier und BJP-Politiker Udit Raj. Tina Dabi sei eine Inspiration für andere junge Frauen, lobt auch Sonia Gandhi, Präsidentin der traditionsreichen Kongresspartei.

200 bis 300 Millionen der 1,2 Milliarden Inder zählen zu den Dalits. Im hochgradig arbeitsteiligen Kastensystem waren sie traditionell mit Tätigkeiten betraut, die als "unrein" gelten: Sie leeren Latrinen, putzen Toiletten und reinigen Abwasserkanäle, beseitigen Müll, Kot und Kadaver oder häuten verendete Tiere und machen Leder aus den Häuten.

Zwar war mit Kocheril Raman Narayanan von 1997 bis 2002 erstmals ein Dalit Präsident Indiens, doch solche Karrieren bleiben die Ausnahme. Bis heute kämpfen Dalits um soziale Anerkennung. Vor allem auf dem Lande herrscht in vielen Regionen weiter das grausame Kastengesetz, werden Dalits wie Aussätzige behandelt. Es ist ihnen untersagt, aus dem gleichen Brunnen zu trinken wie höhere Kasten, mit ihnen Tisch und Geschirr zu teilen oder deren Tempel zu betreten. Meist leben sie in Vierteln außerhalb der Dörfer. Selbst ihr Schatten gilt als so unrein, dass sie damit andere nicht berühren dürfen.

Gewalt gegen Dalits ist an der Tagesordnung. In Odisha wurden jüngst 48 Dalit-Familien attackiert und ihre Häuser geplündert, weil sie Wasser aus dem Dorfteich geschöpft hatten. Im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh wurde ein Dalit-Teenager von Angehörigen höherer Kasten zu Tode geprügelt, weil er sich in einem Feld erleichtert hatte, das diesen gehört.

Doch vor allem in den Städten können immer mehr Dalits die Fesseln ihrer Geburt abstreifen. Dort verwischen die Kastengrenzen zusehends. Auch Tina Dabi wurde in Bhopal geboren und zog 2005 mit ihrer Familie in die Hauptstadt Delhi, wo sie am renommierten Lady-Ram-College Politikwissenschaften studierte.

Seit Jahrzehnten müht sich Indien, benachteiligte Kasten gezielt zu fördern. An Universitäten und im Staatsdienst sind für sie Plätze reserviert. Ähnlich wie in Europa die Frauenquote wird auch in Indien das Quotensystem kontrovers diskutiert. Vor allem höhere Kasten klagen, Dalits und andere niedere Kasten würden Staatsjobs und Uniplätze nur wegen der Quote, aber nicht wegen ihrer Qualifikation bekommen.

Ureinwohner als Vorfahren

Die Dalits sind die Nachkommen der indischen Ureinwohner, die von nachfolgenden Eroberern aus dem klassischen Kastensystem ausgeschlossen sind. Mahatma Gandhi bemühte sich bereits um die Steigerung deren Anerkennung, was nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß – sie fühlten sich paternalistisch und nicht gleichberechtigt behandelt.

Tina Dabi hat es auch ohne Quote geschafft. Über Monate hat sie jeden Tag für die "Mutter aller Tests", wie das härteste aller Bewerbungsverfahren auch genannt wird, gebüffelt. Sie verdanke ihren Erfolg vor allem der Unterstützung ihrer Mutter Himali, sagt sie.

Die gelernte Ingenieurin hatte ihren Beruf aufgegeben, um sich ganz um die Kinder und deren Ausbildung zu kümmern. Aber wie Udit Raj glauben viele, dass erst die Quoten den Grundstein legten, dass Karrieren wie die von Tina Dabi heute möglich sind. (Christine Möllhoff, 23.5.2016)