Der bereits oft zitierte Schlüsselsatz aus der Antrittsrede des neuen Bundeskanzlers Christian Kern hat nicht nur österreichische Relevanz. Er formuliert das Thema der seit Jahren bemerkbaren Erosion der einstmals großen europäischen Volksparteien, der Christdemokraten und der Sozialdemokraten: "Wenn wir jetzt nicht kapiert haben, dass das unsere letzte Chance ist, dann werden die beiden Großparteien und diese Regierung von der Bildfläche verschwinden. Wahrscheinlich völlig zu Recht."

In Österreich haben selbst prominente Politologen und Zeithistoriker erst vor wenigen Jahren entdeckt, was bereits zu Jörg Haiders Zeiten und vor allem rund um den Umschwung zu Schwarz-Blau im Jahre 2000 evident war: Die Donau- und Alpenrepublik ist politisch den südlichen und östlichen Nachbarn viel ähnlicher als Deutschland oder Frankreich oder Schweden. Der Befund:

Die sozialdemokratischen Parteien sind seit 15 bis 20 Jahren förmlich implodiert, haben sich zum Teil aber wieder gefangen – mit gleichen Namen, aber mit anderen Inhalten wie etwa in der Slowakei die Fico-Partei.

Gewinner, die autoritär regieren

Die christdemokratischen Parteien sind verschwunden (zum Beispiel Ungarn) oder zu Steigbügelhaltern (zum Beispiel Italien) geworden. An ihre Stelle sind weltanschaulich diffuse, in jedem Fall aber rechtspopulistische Parteienbündnisse getreten, die Wahlen gewinnen (zum Beispiel Kroatien) oder überhaupt autoritär regieren (wie Viktor Orbán in Budapest).

Während die Sozialdemokratie in Italien mit einem risikofreudigen Parteichef und Ministerpräsidenten weit nach links ausgreift und die SPD viel stärker wäre, könnte sie "Die Linke" einbeziehen, fehlen im eigentlichen Mitteleuropa (von Polen über Tschechien, Österreich und Ungarn bis nach Slowenien) solche Varianten. Hier sitzt der Kommunismus – verschieden stark – noch in den Eingeweiden.

Gegenüber Nazi-Resten, Führerkult und faschistischen Bewegungen gibt es im "Volk" aber kaum Berührungsängste. Magendrücken fehlt. Nur intellektuelle Minderheiten, in Wien von Rechten wie Hofer als "Schickeria" etikettiert, rebellieren teils heftig. Das führt zu besonderen Konstellationen. Christdemokraten werden von der populistischen Rechten ebenso aufgesaugt wie Liberale. Man kann das auch den Orbán-Effekt nennen.

Generalvollmachten von den Parteien

Was das für Österreich heißt? Wenn sich ÖVP und SPÖ nicht energisch zusammenreißen, wird der Kern-Satz wahr. Um das zu verhindern, müssen sich sowohl Kern als auch Mitterlehner wie einst Bruno Kreisky von ihren Parteien Generalvollmachten geben lassen.

Kreisky hat das 1978 von der SPÖ nach der Zwentendorf-Abstimmung verlangt. Bekanntlich hat in Österreich der Kanzler keine Richtlinienkompetenz, also erreichte der "Sonnenkönig" von der SPÖ, alle seine Maßnahmen mitzutragen. 1979 gewann er die Wahlen haushoch.

Eine andere, viel riskantere Variante wären Neuwahlen im Herbst. Doch die will niemand außerhalb der FPÖ.

Gelingt der Regierung kein schneller Bauchaufzug, geht die Erosion weiter. (Gerfried Sperl, 22.5.2016)