Börsianer in Asien verfolgten am Freitag nervös die 25-minütige Antrittsrede von Tsai Ing-wen, der neuen, ersten Präsidentin Taiwans. Noch gespannter hörte Chinas Parteiführung zu, die jede Aussage der nach ihrem Wahlsieg an die Macht gekommenen Chefin der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) auf die Goldwaage legte: Würde die 59-jährige Anwältin die von China geforderten Worte "jiu-er gongzhi" in ihrer Rede aufnehmen, wie es ihr chinafreundlicher Vorgänger Ma Ying-jeou getan hatte – oder würde sie durch Nichterwähnen Peking vor den Kopf stoßen?

"Jiu-er gongzhi" wäre ein von Tsai gesendetes Signal, bereit zu sein, den 1992 zwischen zwei Unterhändlern vereinbarten Kompromiss zur Grundlage auch ihrer Politik zu machen. 1992 bekannten sich beide Seiten dazu, einem China anzugehören, ließen aber bewusst offen, was sie darunter verstehen und wie sie dorthin kommen wollen. Für China ist die Anerkennung der 1992er-Formel mehr als ein pragmatischer Rahmen, um miteinander Geschäfte zu machen: Es ist eine Brücke, um zur Wiedervereinigung zu gelangen, und vor allem eine Gewähr, dass Taiwan sich nicht zu einem selbstständigen neuen Staat ausruft.

Tsai sagte die vier Worte nicht. Diplomatisch geschickt umschiffte sie die erste gefährliche Klippe ihrer Amtszeit. In einem eigenen Abschnitt ihrer Rede ging sie auf Taiwans Beziehungen zu China ein und bot breitere Zusammenarbeit auf allen Gebieten und Schritte zur friedlichen Entwicklung an. Zum ersten Mal sprach sie auch über den Kompromiss von 1992, von dem viele Parteimitglieder der DPP glauben, dass er nachträglich erfunden wurde.

Außenwirtschaftliche Kursänderung

Sie "respektiere die historische Tatsache", dass es damals zu dem Treffen und zu einer Verständigung beider Seiten gekommen sei, betonte Tsai. Diese habe zu dem sich seit mehr als 20 Jahren friedlich entwickelnden umfangreichen Austausch und zum Status quo zwischen Taiwan und China geführt. "Wir sollten uns darum bemühen, ihn zu erhalten." Tsai versicherte China damit zwar, dass sie keinen Kurs der Unabhängigkeit Taiwans fahren wird. Ihren Parteimitgliedern signalisierte sie zugleich aber, sich nicht von China vereinnahmen zu lassen. 20.000 bejubelten sie bei ihrer Rede vor dem Präsidentenpalast. Beide Regierungsparteien, sagte sie, sollten ihre Bürden aus der Geschichte ablegen und einen "positiven Dialog" miteinander führen. Taiwan wolle sich in seinen Wirtschaftsbeziehungen breiter aufstellen und auch mit einer Südpolitik nach Indien orientieren.

Die Kurse an den asiatischen Börsen, auch jene in Taipei und Schanghai, schlugen nicht aus; einige zeigten leichte Gewinne. Chinas erste offizielle Reaktion war verhalten kritisch. Der Sprecher des Taiwan-Büros unter dem Staatsrat bedauerte: "Die neue taiwanesische Führerin hat die Kernbedeutung der Formel von 1992 nicht anerkannt." Für beide Seiten gebe es nur ein China. Tsai habe dazu eine "verschwommene Haltung" eingenommen, ihre Antwort auf die Frage nach der 1992er-Formel sei "unvollständig".

Chinas Medien machen Druck auf Tsai

Viel schärfer hatte die chinesische Staatspresse seit Tagen Druck gemacht und sich auf die neue Präsidentin eingeschossen: Jeder Rückzug vom 1992er-Kompromiss, den Vorgängerpräsident Ma hochgehalten hatte, würde dramatische Folgen für die Beziehungen haben. "China Daily" schrieb in einem Leitartikel am Donnerstag von einem "Wendepunkt in den Beziehungen" und warnte Tsai davor, sich "durchmogeln" zu wollen. Selbst das liberale Wochenblatt für Intellektuelle und Reformdebatten, "Nanfang Zhoumo", musste Flagge zeigen. Auf seiner Titelseite kommentierte es, dass die Anerkennung der Ein-China-Formel die Mindestforderung an Tsai sei.

Um den Ernst solcher Warnungen zu unterstreichen, kündigte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums Militär- und Marinemanöver mit amphibischen Landebooten als "Routineübungen" an der südostchinesischen Küste nahe Taiwan an. China und Taiwan sind seit 1949 gespalten, nachdem die Nationalregierung der Kuomintang den Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten verloren hatte und auf die Insel geflohen war. China droht Taiwan immer wieder mit gewaltsamer Wiedervereinigung und Invasion, wenn es sich formal für unabhängig erklärt. Chinas Volkskongress hat das auch gesetzlich festgeschrieben. Am Freitag ließ China vorsorglich Internet und Mikroblogs besonders stark zensurieren und blockierte die Verbreitung von Tsais Rede. (Johnny Erling, 20.5.2016)